Was in uns steckt: Überlegungen zu Begabungen und Talenten

Der Bereich der Begabten- und Begabungsförderung wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert. Forschungen zeigen, dass es im Kern darum geht, Potenziale zu erkennen und ihre Entfaltung durch ein förderliches Umfeld zu ermöglichen. Eine Pädagogik, die diesen Grundsätzen folgt, individualisiert und differenziert den Unterricht weniger im Hinblick auf Begabung als vielmehr im Bewusstsein um die Fähigkeiten aller Schüler*innen. Eine begabende Schule ist daher eine qualitativ hochstehende Schule für alle Lernenden.

 

Erfahrungen


In Matildas Klasse – einer 1. Klasse Volksschule – werden Rechengeschichten im Zahlenraum 20 besprochen und gelöst. Die Lehrerin wundert sich, dass sich Matilda, die eine ausgezeichnete Schülerin ist, während der Erarbeitungsphase kaum meldet. Als die Kinder einige Beispiele eigenständig lösen dürfen, geht die Lehrerin durch die Klasse, unterstützt, bespricht und beobachtet. Dabei fällt ihr auf, dass Matilda bereits alle Beispiele korrekt gerechnet hat. „Du warst aber schnell“, sagt die Lehrerin zu ihr. „Ich weiß immer sofort, wie das geht“, antwortet Matilda. „Die Zahlen stellen sich selbst immer zur richtigen Rechnung hin.“ Die Lehrerin vermerkt in ihrem Beobachtungsbogen – nicht zum ersten Mal –, dass Matilda eine auffallende Begabung im mathematischen Bereich hat. 
Sophia ist ein Mädchen mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Ihre Erstsprache ist nicht Deutsch und verbale Äußerungen sind selten. Als sie in eine neue Gruppe und eine neue Umgebung kommt, lernt Sophia das Anfangsritual kennen: Jedes Kind artikuliert seinen Namen und legt dabei einen kleinen Holzring und einen Glitzerstein auf das Tuch in der Mitte. Nach einigen Tagen sagt Sophia deutlich: „Ich heiße Sophia.“ Sie lächelt und sucht den Augenkontakt mit der Lehrperson. Sophia macht in der Folge unerwartet große Fortschritte in der sprachlichen Kontaktaufnahme mit ihrer Umgebung.

Zwei Mädchen stehen vor einer Tafel
Bei Kindern, die ähnliche Begabungen wie Mathilda haben, stellen sich die Zahlen immer selbst die richtige Reihenfolge.

Was sind Begabungen?


Beim Durchlesen dieser zwei Eindrücke aus meinem Berufsalltag als Beratungslehrerin stellt sich möglicherweise zunächst die Frage, was diese Geschichten gemeinsam haben und ob wirklich beide einen guten Einstieg zu einem Artikel über Begabung darstellen. Im ersten Fall ist der Zusammenhang offensichtlich: Matilda hat eine erkennbare mathematische Begabung. In den Erfahrungen mit Sophia wird ein Aspekt des Lernens deutlich, der in der Begabungsförderung von entscheidender Bedeutung ist: Potenziale und ihre Entfaltung. 
Während Begabung und Talent für lange Zeit als ein feststehendes Persönlichkeitsmerkmal gesehen wurden, sind neuere Überlegungen zu den Grundlagen von Hochbegabung zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei Begabungen immer um Potenziale handelt, die durch Förderung besser entwickelt werden können als ohne das entsprechende Umfeld. Diese ‚Möglichkeiten für das Erbringen von Leistungen‘ – wie Potenziale in diesem Zusammenhang auch umschrieben werden können – treten in verschiedensten Formen auf. Die populärste Variante von Hochbegabung ist die intellektuelle, bei der ein hoher Intelligenzquotient als deutlichstes Anzeichen gesehen wird. In neueren Begabungsmodellen wird dieser Begabungsbegriff stark erweitert. 

Das Modell der ‚Multiplen Intelligenzen‘ von Howard Gardner kritisiert genau diese Festlegung von Begabung auf rein intellektuelle Fähigkeiten, die mit einem Intelligenztest gemessen werden können.

Das Modell der ‚Multiplen Intelligenzen‘ von Howard Gardner kritisiert genau diese Festlegung von Begabung auf rein intellektuelle Fähigkeiten, die mit einem Intelligenztest gemessen werden können. Bei Gardner werden sprachliche, logisch-mathematische, naturalistische, visuell-räumliche und körperlich-kinästhetische Intelligenz ebenso ausgewiesen wie musikalische, interpersonale und intrapersonale Potenziale. Im Münchner Hochbegabungsmodell wird diese Sichtweise aufgegriffen und weiterentwickelt. Sowohl die Persönlichkeitsfaktoren von Lernenden als auch die Umweltbedingungen, die das Lernen beeinflussen, werden miteinbezogen. Noch stärker in diese Richtung geht das ‚Aktiotop-Modell‘ von Albert Ziegler, in dem der Lernumgebung so große Bedeutung beigemessen wird, dass es in dem Satz zusammengefasst werden kann: ‚Let’s not identify gifted kids but gifted environments‘. 

 

Was ist eine ‚begabende Schule‘?


Unter dem Druck vielfältiger Herausforderungen im pädagogischen Alltag stellt sich Lehrpersonen die Frage, wie die Förderung von begabten und hochbegabten Schüler*innen in die schulische Praxis eingebunden werden soll. Die Antwort darauf gibt eine Sicht von Pädagogik, die grundsätzlich darauf ausgerichtet ist, Potenziale zu erkennen und ein förderliches Lernumfeld zu bieten. 
Die erste Voraussetzung für ein solches Lernumfeld ist daher eine Lehrperson, die mit ‚offenen Augen‘ die Möglichkeiten und Entwicklungen ihrer Schüler*innen wahrnimmt. Diese einfachste Form der pädagogischen Diagnostik wurde und wird wohl häufig unbewusst durchgeführt. Werden diese Vorgänge reflektiert und dokumentiert – wird aus der einfachen Beobachtung also eine systematische – ist das die Grundlage für individualisierte und differenzierte Förderprozesse. Es ist eine Form der Einschätzung, die nicht verfrüht selektiert und bewertet, sondern Lernstände erfasst, um allen Lernenden optimale Fortschritte zu ermöglichen. Diese pädagogische Diagnostik orientiert sich nicht am Ergebnis, sondern am Prozess, will nicht selektieren, sondern fördern und adaptiert Kriterien mit Blick auf den Lernfortschritt und nicht in Bezug auf vorgegebene starre Normen. 
In der heutigen Schullandschaft braucht es zusätzlich einen ‚offenen Sinn‘, um mit den veränderten Gegebenheiten pädagogisch effektiv umzugehen, sie sogar zu nutzen. In den viel beschriebenen heterogenen Lerngruppen gibt es nicht nur eine Vielfalt an kulturellen Hintergründen, sprachlichen Voraussetzungen und sozio-ökonomischen Gegebenheiten, sondern eben auch eine große Diversität an Begabungen – mit anderen Worten: an Potenzialen auf verschiedenen Gebieten. Obwohl es in der Geschichte der Begabungsförderung starke Strömungen zur Selektion von Hochbegabten in eigenen Klassen gegeben hat, ist aus neuerer Sicht ein individualisierender und differenzierender Unterricht mit zusätzlichen außerschulischen Angeboten am besten geeignet, um hochbegabte Schüler*innen ihren Potenzialen entsprechend zu fördern.
Alle diese Zugänge münden in einen inklusiven Unterricht im besten Wortsinn: ein Unterricht, der allen Kindern gerecht wird. Gelingende Schulentwicklung in diese Richtung kann es aber nur geben, wenn von der Bildungspolitik die dafür notwendigen offenen Strukturen geschaffen werden. Schüler*innen und Lehrpersonen brauchen diese Unterstützung auf den verschiedensten Ebenen: gesetzliche Rahmenbedingungen, die Offenheit bei der Gestaltung der Lerngruppen und eine stärkenorientierte Beurteilung erlauben; personelle Ressourcen, die für einen individualisierten und differenzierten Unterricht notwendig sind; alle äußeren Umstände, wie Organisation und bauliche Gegebenheiten, die den veränderten Bedingungen angepasst werden müssen. Auf diese Weise wird es nicht nur begabten Kindern und Jugendlichen ermöglicht, ihr Potenzial für sich selbst und zum Nutzen der Gesellschaft zu entfalten – die Verbesserung der Schulqualität kommt allen zugute, die am Unterrichtsprozess beteiligt sind.
 

Zwei Kinder sitzen auf einen breiten Fensterbrett und haben Bücher am Kopf
Es gibt eine große Diversität an Begabungen.

Zum guten Schluss

Aus diesen Überlegungen heraus wird deutlich, dass es bei Begabungs- und Begabtenförderung um mehr geht als um die Auswahl einer Elite von Schüler*innen, die möglicherweise gesondert unterrichtet werden. Es dreht sich vielmehr darum, eine pädagogische Antwort auf die Frage zu finden, wie Schule für alle zu einem Ort des Lernens und der persönlichen Entwicklung werden kann. Womit sich der Kreis schließt: Matilda und Sophia haben beide diesen Ort gefunden und werden aller Voraussicht nach weiterhin darin unterstützt werden, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und ihr Leben für sich und andere fruchtbringend zu gestalten.
In diesem Sinne kann Schule der Forderung des Artikels 29 der UN-Kinderrechtskonvention nachkommen, „dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss, die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen“. 

 

Die Bildung des Kindes muss darauf gerichtet sein, dass die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung gebracht wird. 

 

Literatur

Müller-Oppliger, V. & Weigand, G. (Hrsg.). (2021). Handbuch Begabung. Beltz: Weinheim Basel.

Silvia Muigg-Singer
Silvia Muigg-Singer Mag., MA

Silvia Muigg-Singer ist Lehrerin und Religionspädagogin. Derzeit ist sie Beratungslehrerin für Sprachpädagogik und sprachliche Förderung an APS, dem Fachbereich für Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik zugeordnet.

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