
Was soll ich denn noch alles machen?
„Was soll ich denn noch alles machen?“ – Diesen Satz höre ich in der einen oder anderen Form immer häufiger in Gesprächen mit Kolleg:innen. Aus ihm sprechen oft Verzweiflung und Überforderung angesichts der steigenden Erwartungen an Lehrer*innen. Wir sind meilenweit entfernt von dem Lehrer*innenbild, das so manche schulfremden Personen auch heute noch in ihren Köpfen verankert haben: viel Freizeit für wenig Zeitaufwand. Wer nach Lehrpersonen sucht, die im Unterricht lediglich auf Seitenzahlen in Arbeitsbüchern verweisen und Filmausschnitte auf Highend-Geräten abspielen, wird schwer fündig werden.
Liest man die Ergebnisse der ATPHS (Austrian Teacher and Principal Health Study) vom Herbst 2022, wird deutlich erkennbar, dass sich die wachsenden Herausforderungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Lehrpersonen auswirken. Demzufolge zeigen 51 % der Pädagog:innen Zeichen einer hohen emotionalen Erschöpfung, wobei jüngere Kollegen*innen mehr belastet sind als ältere.
Ob die Überforderung nun am akuten Lehrkräftemangel, der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung, dem steigenden bürokratischen Aufwand oder der wenig eindeutigen Rolle von Lehrpersonen (vgl. Rohr 2023, S. 11) liegt, ist unklar. Im wahrscheinlichsten Fall ist es eine Mischung aus allem und noch viel mehr.
In diesen Betrachtungen wurde noch nicht bedacht, dass auch wir Lehrpersonen als Menschen mit unseren ganz persönlichen Geschichten und Themen in die Schule kommen. Wir können noch so professionell arbeiten – auch das, was sich fernab von Konferenzzimmern und Schulgemeinschaften abspielt, prägt unser Auftreten im Unterricht.
Ich treffe immer wieder auf Kollegen*innen, die weit über den eigenen Tellerrand ihrer Fachkompetenz hinaussehen. Sie nehmen wahr, wer ihnen anvertraut ist, mit allen Sorgen, Nöten und Ängsten, die sich im Schulalltag zeigen. Sie leben das, was mit „Wachsamer Sorge“ gemeint ist im Sinne einer Neuen Autorität, wie sie Haim Omer beschreibt. Sie sind aufmerksam, handeln bei Schwierigkeiten und geben Schutz und Hilfestellungen (Omer vs. Lemme/Körner, 2022, S. 39f). Sie sind da. Und das erfordert viel Kraft.
Warum es Grenzen braucht
Es ist wichtig und richtig, an dieser Stelle anzuerkennen, was ich als Lehrperson leiste. Natürlich bekommen engagierte und wachsame Lehrer*innen immer wieder auch Anerkennung von ihren Schüler*innen und deren Eltern. Mindestens genauso wichtig ist es aber, selbst zu spüren, dass mein Handeln entscheidend zum Gelingen im Schulalltag beiträgt.

Um all das leisten zu können, muss ich auf mich achtgeben. So wie ich eine Gießkanne erst mit Wasser befüllen muss, um das Blumenbeet damit gießen zu können, so muss auch ich zuerst meine Ressourcen stärken, um dann wieder präsent sein zu können.
Darauf zu achten, was mir selbst guttut, hat viel mit dem Wahren meiner Grenzen zu tun. Und dabei ist nicht gemeint, dass ich all das eliminiere, was gerade nicht passt. Es geht vielmehr darum, was Alfried Längle meint, wenn er sagt, dass „[…] ich mit Wachheit auf mein Erleben schaue, auf mein Fühlen und Spüren.“ (Längle vs. Metzger, 2024, S. 22)
Und jede Grenze hat auch einen Sinn. Sie schafft einen Raum, um etwas zu ermöglichen. „Innerhalb der Grenze liegt ein Wert.“ (Metzger, 2024, S. 23)
Wer die eigenen Grenzen im Berufsleben schützen möchte, kann auf Fragen zurückgreifen, deren Antworten Klarheit geben können.
Darauf zu achten, was mir selbst guttut, hat viel mit dem Wahren meiner Grenzen zu tun.
Frage 1: Was kann warten?
Setz Prioritäten! Das ist oft einfacher gesagt als getan. Es klingt fast verhöhnend, wenn Außenstehende raten, dass sich Lehrpersonen ein Zweithandy zulegen oder ihre E-Mails außerhalb der Unterrichtszeit nicht öffnen sollen. Und doch liegt darin ein wahrer Kern.
Dank Teams, WebUntis, Schoolfox und Co. können wir jederzeit Nachrichten empfangen – angefangen von besorgten Eltern, die sich um 22:00 noch melden, bis hin zu verschlafenen Schüler*innen, die 5 Minuten vor Unterrichtsbeginn schnell die Hausübung wissen wollen. Hat uns die Zeit des Homeschoolings und Hybridunterrichts fast schon antrainiert, immer und überall erreichbar zu sein, dürfen wir nun erkennen, dass diese Zeiten vorüber sind. Die Tatsache, dass sich eine neue E-Mail in unserem Postfach befindet, heißt noch lange nicht, dass wir jetzt sofort in diesem Augenblick antworten müssen. Ich darf eine Nachricht lesen und erst später beantworten. Das nächste Mal, wenn das Briefsymbol am Display erscheint, frage ich mich: Kann das warten? Erstaunlicherweise lautet die Antwort in den allermeisten Fällen: Ja.
Frage 2: Wer kann mir helfen?
Lehrpersonen sind oft Einzelgänger*innen. Sie bereiten sich so vor, wie sie es für richtig halten, und erfüllen die Anforderungen des Lehrplans auf ihre eigene Art und Weise. Sie gehen meist allein in die Klasse, treffen zahlreiche Entscheidungen ohne Absprache und noch vieles mehr. Dies ist eine Form von Individualismus, die von vielen geschätzt wird.
Es gibt jedoch auch die Kehrseite der Medaille. „Wenn wir uns als allein oder auch alleingelassen erleben, schwindet ein großer Teil unserer Wirksamkeit.“ (LemmeKörner, 2022, S. 82) Und wenn wir uns nicht als wirksam erleben, zweifeln wir an unserer Kompetenz, werden unsicher und erleben uns als noch unwirksamer.
Was uns vor dieser Abwärtsspirale rettet, ist ein Netzwerk an Unterstützung. Sowohl kollegiale Beratung als auch Supervision sind Maßnahmen, die stärken. Jedes ehrliche Gespräch im Kollegium, sei es bei einer Tasse Kaffee in der Pause oder in einer Klassenkonferenz, kann so viel mehr bewirken als jedes Alleinkämpfertum. Wenn ich mir Unterstützung von der Schulleitung oder auch von den Eltern holen, kann mich das entlasten.

Frage 3: Wann halte ich inne?
„Das Eisen schmieden, wenn es kalt ist“, dieser Satz steht in Haim Omers Konzept der Neuen Autorität für geplante und durchdachte Interventionen. Sind wir es gewohnt, schnell und sofort zu reagieren, ermöglicht uns dieser Ansatz eine neue Sichtweise. Dies wird anhand der unmittelbaren Bestrafung erklärt. „Sie geschähe nämlich in einem Moment höchster emotionaler Erregung – meist Wut – auf beiden Seiten.“ (Omer, 2020, S. 23f) Und gerade dann haben überlegte Konzepte wenig Chancen. Es kann Sinn machen, diesen Gedanken auf alle konfliktreichen Situationen im Schulalltag auszudehnen. Anstatt in den emotionalen Kampf einzusteigen, gibt es immer auch die Möglichkeit, innezuhalten.
Ich lade an dieser Stelle zu einem Gedankenexperiment ein. Wie wären die letzten konfliktreichen Situationen verlaufen, wenn ich als Lehrperson gesagt hätte: Darüber muss ich nachdenken. Ich gebe dir (oder Ihnen) Bescheid, wenn ich mich für eine Lösung entschieden habe.
Frage 4: Wie kommuniziere ich?
Manchmal gehen wir automatisch davon aus, dass andere wissen, wie wir uns fühlen. Wir laufen im Konferenzzimmer von A nach B, haben kaum Zeit, am Kopierer zu warten und vertagen ein Gespräch auf später – wir glauben, dass das ausreicht, damit andere sehen, dass wir mit unseren Kapazitäten am Ende sind. Was wir dabei vergessen, ist, dass auch unsere Kolleg:innen ihre eigenen Themen mit sich herumtragen. Und selbst wenn jemand heute ganz befreit aufatmen kann, heißt das noch lange nicht, dass er oder sie mich aufmerksam beobachtet und die richtigen Schlüsse zieht.
Wenn wir uns also der Tatsache bewusst sind, dass sich niemand in unsere Lage versetzen kann, macht es Sinn, klar und deutlich zu kommunizieren, sowohl meinen Kolleg:innen als auch meinen Schüler*innen und deren Eltern gegenüber. Klare Worte werden nicht nur geschätzt, sondern verhindern oft Missverständnisse, die dadurch entstehen, dass einer Partei nötige Informationen fehlen.
Frage 5: Wo kann ich nichts tun?
Und manchmal tut sich eine Grenze auf, wenn ich erkenne, dass etwas außerhalb meines Einflussbereiches liegt. Vor einiger Zeit sagte eine ältere Kollegin sinngemäß zu mir: „Du kannst noch so viel versuchen und tun, aber du kannst sie (die Schüler*innen) nicht alle retten.“ Was mir damals fast schon als grausam erschien, ist mir in den Jahren meiner Lehrtätigkeit doch schmerzhaft hin und wieder begegnet.
Das vielzitierte Gebet des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr kann hier eine Hilfestellung sein und es eignet sich, wie ich finde, sehr gut als Schlusswort:
Gott, gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Literatur
- Institut für Gesundheitsförderung und Prävention GmbH. (2022). Ergebnisse der Austrian Teacher and Principal Health Study (ATPHS).
- Lemme, M., & Körner, B. (2022). Neue Autorität in der Schule (6. Aufl.). Carl-Auer Verlag.
- Metzger, J. (2024). [Interview mit Alfried Längle]. Psychologie heute, 9, 21-23.
- Omer, H., & Haller, R. (2020). Raus aus der Ohnmacht (2. Aufl.). Vandenhoeck & Ruprecht Verlag.
- Rohr, D. (Hrsg.). (2023). Gelingende Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen (2. Aufl.). Carl-Auer Verlag. (Reihe „Beratung, Coaching, Supervision")
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