Ich bin ich

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Ich bin ich

Als ich mit meinem Psychologiestudium begonnen hatte war mein jüngerer Sohn noch nicht ganz vier Jahre und begann gerade mit dem Kindergarten, mein älterer Sohn ging in die 2. Klasse Volksschule. Ich hatte das große Bedürfnis viel zu lernen und mir Wissen anzueignen, speziell in Entwicklungspsychologie. Ob ich in diesem Bereich jemals beruflich Fuß fassen konnte, wusste ich noch nicht. Bald wurde mir aber klar, dass ich auch mehr über mich selbst erfahren wollte und inskribierte deshalb zusätzlich Erziehungswissenschaften. Mein Schlüsselerlebnis dazu war, als ich bei meiner ersten Prüfung in Pädagogik dem Lehrenden, einem sehr freundlichen und liebenswürdigen, älteren Herren gegenüber saß und dieser meinte: „Liebe Frau Kollegin, was in meinen Skripten steht weiß ich, ich bin auch davon überzeugt, dass Sie sie gelesen haben, mich interessiert aber viel mehr, was denken Sie persönlich darüber?“
So kam ich auf den Weg der Selbstfindung: Was oder wer bin ich? Wie denke und fühle ich? Was mag ich an mir und was muss ich an mir annehmen und akzeptieren lernen?

Mittlerweile bin ich selbständige Psychologin und Pädagogin in eigener Praxis mit dem Arbeitsschwerpunkt Krise und Krisenbewältigung bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen und habe die Landesleitung von Rainbows-Tirol inne, wo wir Kinder und Jugendliche nach Trennung bzw. Scheidung der Eltern, aber auch nach dem Tod von nahestehenden Menschen begleiten.

Ich stehe immer wieder der großen Herausforderung gegenüber, Kindern und ihrem Bezugssystem in schwierigen Zeiten Unterstützung zu bieten. Ich möchte hierbei die wichtige Rolle der Pädagogen*innen, sowohl Lehrpersonen, wie auch Kindergartenpädagogen*innen hervorheben. In der Schule und im Kindergarten können die Kinder in diesen stürmischen Zeiten Normalität erleben, was sehr wichtig ist für sie. Gleichzeitig bedarf es aber auch eines sehr empathischen Gegenübers, das versteht, warum das Kind bzw. der Jugendliche gerade nicht 100% Leistung erbringen kann.

Kinder lernen bei mir in der Praxis und auch in unseren Rainbows-Gruppen, dass alle Gefühle – egal ob positiv oder negativ – zu ihnen gehören und ein Teil von ihnen sind, dass sie sich als solches Ganzes annehmen müssen und bedingungslos ja zu sich sagen sollen. Speziell Kinder und Jugendliche mit Mobbingerfahrung müssen erleben, dass sie etwas Einzigartiges und Besonderes sind, dass sie sich nicht verbiegen und verrenken müssen, um gleich wie andere zu sein. Jeder hat das Recht seiner Selbstwillen geliebt und geachtet zu werden. Deshalb sollte das eigene Verhalten so ausgerichtet sein, dass man weder den anderen noch sich selbst schadet.

 

Kinder lernen bei mir, dass alle Gefühle - egal ob positiv oder negativ  - zu ihnen gehören und ein Teil von ihnen sind. 

Das Gleiche soll bzw. muss aber auch für die Pädagogen*innen bzw. Eltern gelten. Sie sind keine Übermenschen und können nicht immer gut gelaunt, emotional ausgeglichen und geduldig ohne Ende sein. Sie dürfen sagen, dass ihnen etwas zu viel ist, dass es ihnen heute nicht so gut geht und sie deshalb nicht so belastbar sind. Gerade Pädagogen*innen haben oft den Anspruch der Perfektion an sich selbst. Aber es ist viel ehrlicher, authentischer und psychisch gesünder, auch als Lehrkraft den Kindern zu signalisieren: Heute ist nicht mein Tag – weil ich vielleicht schlecht geschlafen habe, ich selbst gerade Sorgen und Probleme habe oder eben mit dem falschen Fuß aufgestanden bin. In solchen Fällen ist es besser, die Kinder mit etwas Anderem zu beschäftigen bzw. etwas Entspannendes, Kreatives oder Sportliches zu machen, um sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen und zur Ruhe kommen.

Aus meiner Erfahrung eignen sich dazu sehr gut Fantasiereisen und andere Entspannungsmethoden. Wenn Pädagogen*innen sowie Kinder diese Verfahren einmal gelernt haben, sind sie eine unverzichtbare Ressource im stressigen Lernalltag. Meine Fortbildungen zur psychischen Gesundheit durch Entspannung an der Pädagogischen Hochschule sind meist sehr schnell ausgebucht, ebenso genießen es Lehrpersonen wie Schüler*innen, wenn ich ganze Vor- bzw. Nachmittage verschiedene Entspannungsverfahren in Schulen vorstelle und mit ihnen einübe.

 

In einer solchen wertschätzenden Kultur, wo im gemeinsamen Miteinander, jede*r in seiner Einzigartigkeit Platz hat, ist Lernen viel leichter möglich und Fehlverhalten kann leichter verziehen werden. 

In einer solchen wertschätzenden Kultur, wo im gemeinsamen Miteinander, jede*r in seiner Einzigartigkeit Platz hat, ist Lernen viel leichter möglich und Fehlverhalten kann leichter verziehen werden, denn es wird nicht persönlich genommen.
Die Vielfalt und Einzigartigkeit macht uns Menschen aus. So wie im Kinderbuchklassiker von Mira Lobe sollten wir nicht ständig damit beschäftigt sein, jemand anders sein zu wollen, sondern zu uns selbst zu stehen und uns selbst mit allen positiven wie negativen Eigenschaften und Merkmalen annehmen. Denn dann sagen auch die anderen zu uns: … du bist du …
Darum möchte ich mit einem Zitat von Astrid Lindgren schließen:

Lass dich nicht unterkriegen, sei frech, wild und wunderbar!
 

 

Luftsprung
Sei frei, frech und wunderbar!

Dieser Artikel ist das erste Mal in der Ausgabe AULFEBEN 2016/4 zum Thema "Lernraum Ich" erscheinen. 

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Barbara Baumgartner
Barbara Baumgartner MMag.

Barbara Baumgartner ist Klinische- und Gesundheitspsychologin, Pädagogin in eigener Praxis, Kinder-, Jugend- und Familienpsychologin, Notfallpsychologin, Psychoonkologin und Landesleitung von Rainbows Tirol.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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