"Vergessen Sie nicht die strukturelle Gewalt!"
Der im Titel zitierte Satz stammt von einem meiner wichtigsten Mentoren auf dem Gebiet der Gewalt gegen Kinder, dem renommierten Wiener Kinderarzt, Univ. Prof. Dr. Hans Czermak. Im Psychologie- und Pädagogik-Studium zuvor und v.a. durch den psychoanalytischen Ansatz, demgemäß die frühe kindliche Entwicklung sehr wichtig ist, wurde ich schon früh auf dieses Thema aufmerksam. Kindheit ist eine besonders empfängliche Zeit, nicht nur wegen der unglaublichen vor sich gehenden Lernprozesse, sondern auch wegen der Verwundbarkeit kindlicher Seelen durch missliche Erlebnisse und Umstände. Deshalb habe ich mich seit Berufsbeginn jahrzehntelang im Österreichischen Kinderschutzbund (dzt. mit Zentrale in Tirol) für Kinderrechte eingesetzt.
In seinem bahnbrechenden Werk „Die gesunde Ohrfeige macht krank“ (gem. mit Günther Pernhaupt) hatte Czermak schon 1980 neben elterlichen Fehlhaltungen, etwa dass Ohrfeigen harmlos seien, immer den Aspekt der „strukturellen Gewalt“ betont. Damit meinte er jene Gesellschaftsstrukturen und Lebensbedingungen, die es wahrscheinlicher machen, dass Kindern Gewalt im weitesten Sinn widerfährt. Was ist damit gemeint? Wenn Kinder etwa unter schlechten Bedingungen oder gar Armutsgefährdung (skandalöserweise auch im reichen Österreich!) leben, dann behindern diese Strukturen ein gedeihliches Aufwachsen, Gesundheit und gute Entwicklungschancen. Immer dann - auch wenn es vermeidbar wäre, - also etwa durch eine ausgewogenere Einkommensverteilung oder entsprechende Förderungen für sozial Schwache, befördert das strukturelle Gewalt. Auch hierzulande in Österreich haben wir eine Menge (unnötiger) Strukturen, die Kinder, ihre Zukunft und deren Eltern einschränken und gefährden.
Zeitmangel, Bildung, Umwelt- und Zukunftsgefährdung
Aber auch im gesellschaftlichen Alltag gibt es so etwas: Denken wir nur an eine der Hauptursachen für die Belastung bis hin zur Vernachlässigung von Kindern, wie wir sie auch aus Psychotherapien kennen: den Zeitmangel. Wir haben alle zu wenig Zeit füreinander. Dadurch wird das Leben mit Kindern schwieriger als nötig: Zunehmender Arbeitsdruck, auch die wachsende „Freizeitindustrie“ und indirekt auch fehlende Kindergartenplätze rauben uns Muße und Zeit mit Kindern. Zeitmangel betrifft aber auch Ehen und Partnerschaften, was wiederum auf Kinder zurückfällt (z. B. Scheidungen). Oft gibt es kaum mehr gemeinsame Mahlzeiten, Hektik und ständige Mobilität beherrschen den Tag. Stressbedingte Symptome – mittlerweile als „Burnout“ bekannt, was vor wenigen Jahrzehnten noch unbekannt war – nehmen zu. All das sind Auswirkungen gesellschaftlicher Strukturen, die unseren Umgang mit Kindern und damit ihre Orientierungsmöglichkeiten erschweren. Nicht umsonst klagen Kinderpsychiater*innen und -psychotherapeuten*innen über ein steigendes Ausmaß seelischer Beschwerden (und zu wenig Plätze für Therapien).
Im Gegensatz zu jenen konservativen Vertretern der „Leistungsgesellschaft“, die heute beklagen, dass viele aus der jüngeren Generation nicht mehr Vollzeit arbeiten wollen, verstehe ich das zum Teil als „Notwehr“ gegen den Zeitmangel: Oft sind es junge Eltern, die anstatt höherer Verdienste lieber bescheidener leben und dafür mehr Zeit füreinander und für ihre Familien haben. Was gibt es daran von Parteien, die bei jeder Gelegenheit vom Wert der Familie schwadronieren, zu kritisieren? Solche Eltern verdienten vielmehr eine besondere Auszeichnung! Ja, man täte gut daran, die in vielerlei Hinsicht einseitige Leistungsideologie kritisch zu hinterfragen und das Engagement für Familie und Kinder –überwiegend von Frauen erbracht – mit wesentlich mehr Wertschätzung zu begegnen.
Auch am Beispiel der Verkehrs- und Umweltpolitik begegnen wir massiver Gewalt gegenüber Kindern – nicht nur direkt als deren Gefährdung durch zunehmenden Verkehr, sondern v.a. in Form der Schädigung der Atmosphäre durch den CO₂-Ausstoß, wo wir auf verhängnisvolle Kipppunkte zusteuern. Wenn jetzt schon der globale Süden unter Klimakatastrohen massiv leidet und auch bei uns immer mehr Hitzeperioden, Waldbrände, Wassermangel u.a.m. auftreten, dann werden ohne einschneidende Maßnahmen die Jüngsten und Kleinsten auch bei uns künftig die Hauptleidtragenden sein. Eine Politik, die das nicht ernstnimmt und nicht radikal gegensteuert, übt strukturelle Gewalt gegen Kinder aus.
Folgerichtig dürfen wir also nicht nur auf erzieherische Fehleinstellungen sowie auf die aus individuellen oder familiären Problemen resultierende physische oder psychische Gewalt achten. Bemühungen für umfassenden Kinderschutz müssen immer auch die Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen stellen, die tendenziell oder direkt gewaltfördernd sind.
Alles Unrecht = Gewalt?
Nun könnte man fragen, ob alles gesellschaftliche Unrecht, wenn Kinder im Spiel sind, „strukturelle Gewalt“ ist? Ohne den Begriff überstrapazieren zu wollen, würde ich mit „Jein“ antworten: Natürlich gibt es ungerechte Verhältnisse und gesellschaftliche Missstände, die sich im Zuge langfristiger Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft als Tradition etabliert haben und die die Entwicklungschancen von Kindern beeinträchtigen. Das alles kann man nicht umstandslos zur strukturellen Gewalt zählen. Das Entscheidende dabei ist nämlich, ob es Erkenntnisse dazu (beispielsweise aus Kinderpsychologie oder Klimaforschung) und ein gesellschaftliches Bewusstsein für diese Nachteile und ihr Zustandekommen gibt – und die politisch Verantwortlichen dennoch nichts dagegen unternehmen. Oder wenn – wie häufig in der Politik – stets Anderes, „die Wirtschaft“ usw. wichtiger und eigentlich notwendige Gegenmaßnahmen angeblich zu teuer sind, zugleich aber Geld für alles Mögliche da ist. Oder wenn Parteiideologien es verhindern, Veränderungen vorzunehmen (z.B. ein Heile-Welt-Denken und nicht Ernstnehmen der beschämenden Kinderarmut u.a.m.). Letztlich ist es also eine Werte-Frage, wie eine Gesellschaft mit ihren Kleinsten und ihrer Zukunft umgeht!
Es bedarf also einer gewissen Ignoranz – bewusst oder nicht – gegenüber solchen Verhältnissen und ihrer Veränderung, dass man von struktureller Gewalt reden kann. Aber was tun? Gegen diese Wegschau-Tendenzen helfen am besten Bildung und „Kinderpolitik“ (bei uns noch ein Fremdwort). Bei allem politischen Handeln muss konsequent die Situation von Kindern mit bedacht werden, ja, man sollte die wahlwerbenden Parteien strenger auf die Berücksichtigung von Kinderrechten taxieren. Im Bereich der Bildung wiederum muss verstärkt Sensibilität auch gegen strukturelle Gewalt Platz greifen und alle befassten Berufsgruppen müssen auf Möglichkeiten zur Verbesserung der Lage befähigt werden.
In Tirol haben wir 2003 als eine mögliche Maßnahme gegen alle Arten von Gewalt an Kindern eine Elternbildungseinrichtung geschaffen (www.elternbildung-tirol.at), die eine verstärkte Bewusstseinsbildung bei Privatpersonen, in pädagogischen Einrichtungen, Pfarren usw. unterstützt und Mut machen will. Ein Anfang – aber weitere Maßnahmen sollten folgen.
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