Potenziale fördern - Eine Skizze

Das Fördern von Potenzialen bei Kindern ist ein wichtiger Aspekt ihrer Entwicklung. Ist es immer nur das Beste oder wird der Wettbewerbsgedanke zu starkt oder bedeutet es ein fürsorglich begleitet sein und ein dezent angestupst werden? 

Was sagt das „Potenziale fördern“? In der pädagogischen Sprache meint das alle Fähigkeiten, alle Kraft einsetzen, um dienlich werden zu können. So weit, so gut. Liegt eine Einschränkung aber nicht schon im „So weit“? Da scheint ein Wurm drinnen zu sein, um es volkstümlich auszudrücken. Wer soll denn gefördert sein? Ja, das Kind, höre ich unisono. Ist dem wirklich so? Ja, sehr oft schon, aber leider nicht immer. Gefördert werden oft ehrgeizige Lehrer*innen und Eltern, die vom „besten“ Kind ein paar Brotsamen abbekommen, die Schule, die sich sonnt, das Kind (das manchmal lieber raufen, faulenzen, den Wolken nachschauen oder statt Schifahren, doch lieber Skaten möchte), die Sportfirma, die den Sprössling einzukleiden „die Ehre“ hatte und deren Logo Sieger, Siegerin, nun tragen darf. Und wenn sie kritisch sind, die Identitätsfrage stellen: Wer bin ich? Römerquelle, Red Bull, Raiffeisen, A1 oder Bärenbatterie…?


Das Beste für die Kinder wollen?

Da lohnt sich doch ein Blick in die Physik. Sie versteht unter Potenzial eine Größe, um „ein Feld“ zu beschreiben. Das Klassenzimmer – ein Feld? Der Atomphysiker von Weizsäcker beschrieb Bubers Ich-Du-Philosophie feldtheoretisch und fand bei „Ich und Du“ – wie Buber auch – das „und“ zwischen Ich und Du am interessantesten. Dieses Feld ist das „Zwischen“. Es wirkt, „waltet“ zwischen allen am Schulgeschehen Beteiligten. Und dann kommen auch die Eltern hinzu, die für besagte Sprösslinge „ja nur das Beste“ wollen. Tun sie das? Zu viel wissen wir von kaputten Kindheiten, die wohl in den Konzertsaal oder auf die Skipiste oder in den Turnsaal führten, zugleich aber in einer inneren Verelendung endeten, an denen alle „unschuldig“ waren, Lehrer*in, Eltern und manchmal auch die Mitschüler*nnen.

Das Potenzial eines Kraftfeldes will erkannt sein. Aber nach welchen Kriterien? Der Beschleunigung? Der Perfektion? Der Leistungsmaximierung („auf Teufel komm raus“)? Was aber, wenn der Blick durchs Mikroskop, der Flug eines Schmetterlings, der Ton einer Orgel, das Glitzern von Schnee, wenn Ergriffenheit, Staunen und Ehrfurcht das Kartenhaus Förderung durcheinanderbringen? Wenn das mehr und mehr Kinder wünschen, bekommt das Bildungssystem dann „Kammerflimmern“ (vgl. Bastian, 2019, 136)?

Ist es Glücks-Potenzialförderung, wenn schon Volksschulkinder von einem Förderangebot „freizeitlich“ zum nächsten joggen? Wird dann, nach Gronemeyer, „das Leben“ nur mehr „als letzte Gelegenheit“ erachtet? (in: Bastian, 2019, 134). Sind so manche Kinder in einem Freizeitparcour nicht doch nur fördergestresst? Wären besagte Pausen, um des Kindes und nicht um des Ehrgeizes willen, nicht besser in einer Kultur der Verlangsamung, des Staunens und der Ehrfurcht (um drei besonders „altmodische“ Wörter zu bedienen) aufgehoben? Muss die Schule unbedingt das „Feed the fittest“, diese „heilige Kuh“ der Wirtschaft, bedienen? Müssen Kinder im Fördersinne denn „Zeitgetriebene“ (Kaempfer, in Bastian, ebd., 135) sein?


Die Förderung darf zweierlei Bewegungsrichtungen in das Zentrum rücken: (a) das Relationale (Kind „in Beziehung zu…“, vor allem zu sich selbst) und (b) das Wesentlichwerden des Kindes (in eben diesen „Relationen“).

Was so manchen durch den Kopf geht, ist aber eher ein Produktpotenzial. Potenzial, um einen „Output“ (Kind als das beste, schnellste, begabteste…) zu fördern. Es überraschet nicht, dass der Ruf nach Potenzialentfaltung gern kaschiert wird. Er kann nämlich wie ein Narkotikum aufscheinen. Was soll eingeschläfert, was weggebeamt, was überdeckt werden? Es soll jene Förderung verheimlicht sein, die lediglich im Dienst von Auspowern und Konkurrenzverhalten steht.

Kinder fahren mit dem Fahrrad durch den Wald
"Die Welt ist voll mit wunderschönen Sachen und es ist wirklich notwendig, dass sie jemand findet." (Pippi Langstrumpf)

Schnelle, besser, höher, weiter

Dass hier der Sportunterricht gefährden kann, ist insofern bekannt, als es bei so manchen Praxen nur um Konkurrenz und Überholen geht. Das Kind im Dienst von „schneller-schneller, besser-besser, höher-höher, weiter-weiter“. Nun muss zwar ein Kind auch das Verlieren lernen, doch wenn seine einzige Lernerfahrung die ist, beim Völkerball oder anderen „Turnübungen“ im Ranking nach unten immer Letzter oder bestenfalls Vorletzter bei der Gruppenbildung zu sein, spiegelt das nicht unbedingt Potenzialförderung wider. Dasselbe gilt für Aufsatzschulung, wenn, was früher immer wieder vorkam, zum Gaudium der Nichtbetroffenen, die schlechtesten Aufsätze vorgelesen wurden. Dasselbe gilt für das laute Einzel-Vorsingen von Liedern, deren Tonqualität (von Motivation soll bei diesen Beispielen lieber nicht gesprochen sein) nicht besser wird. Nun sei sehr wohl darauf verwiesen, dass sich in Didaktik wie Methodik viel zum Besseren gewandelt hat: gemeinsames Siegen/Verlieren, Zirkelbetrieb (statt den Verlierern, die z. B. nicht und nicht die Stange hinaufkommen, beim Versagen zuschauen), Turnen als Bewegungsentfaltung, Musik als Gemeinschaftsereignis und mit dem Gefühl versehen, dass Noten doch eher in die Musik gehören… 

Potenziale entfalten heißt, Kinder zum Atmen zu bringen, sie sollen all das einatmen, was ihrem (auch – nicht nur – schulischen) Leben zum Leben verhilft.

 

Potenziale entfalten heißt beim Inspirieren helfen. Inspirieren heißt wortwörtlich „einatmen“. Potenziale entfalten heißt, Kinder zum Atmen zu bringen, sie sollen all das einatmen, was ihrem (auch – nicht nur – schulischen) Leben zum Leben verhilft. Diese Be-Geisterung, das ist ein Einatmen, ein In-Spirieren. Es darf fürsorglich begleitet werden und dezent ein wenig angestupst sein. Darum ist es so wichtig, dass die Lehrer*innen ihr Vis-a-vis mögen und auch die Fächer mögen, deren Welten sie präsentieren. Das heißt dann, das schulische Leben in die Gegenwart bringen mit allen Rahmen- und mit allen Orientierungsbedingungen (Migrationskinder, Flüchtlingskinder, Situationen der Diversity…). Dass in dieser Vergegenwärtigung Gegenwart steckt, erklärt sich von selbst. In der Tat ist der didaktische Ort von „present-time“ auch „present“, das Geschenk, nicht ohne Zufall hat die Weisheit der Sprache das wortwurzelverwandt gemacht, denn es ist Programm. Potenziale entfalten heißt also, den Kindern ein Geschenk bereiten, nicht dem Lehrer oder der Lehrerin zuliebe, auch nicht der Wirtschaft zuliebe, sondern nur ihm, dem Kind zuliebe. 

 

Der Getriebenheit widerstehen

Leser wie Leserin mögen mir verzeihen, dass ich hier ein wenig den „Advocatus diaboli“ spiele. Vielleicht, weil ich das Wort, in diesem Fall das Wort Potenzial, pädagogisch vor seiner Entfremdung schützen will. Schließlich soll es nicht zu einer „misguided missile“ werden. 
Nicht umsonst plädiert T. Sebastian (2019) in „Der Getriebenheit widerstehen“ dafür, eine „Kultur der Pause“ zu schätzen. Schon höre ich die, die sagen „Machen wir eh“. Aber in wessen Diensten? Nur zur Steigerung der Leistungsmaximierung (à la schnelleres Lesen?, à la andere überholen?). Vielleicht gilt das „Der Getriebenheit widerstehen“ weniger den Kindern, denn deren Promotoren (Musik-, Sportlehrer*innen, getriebenen Eltern, den „Wir sind die Schule Nr. 1“). Generell gilt es, mit Hierdeis (Mitt. an d. Verf.) gesprochen, Potenziale von bloßen Tüchtigkeiten zu unterscheiden. Potenziale gehen tiefer, weil es psychoanalytische wie politische Aspekte mitumfasst. Bloße Tüchtigkeiten verzwecken Innenliegendes. Sie tun es lediglich in einem „im Dienste von“. Ist hingegen der Weg zu einer Innenschau oder auch zu einer politischen Sensibilisierung („Mund aufmachen“, gegen die Abschiebung einer Mitschülerin kämpfen…) mit-intendiert, so ist der Blick auf soziales Lernen offen.
 

Potenziale fördern abseits von Nützlichkeit und Perfektion
 

Ein kleines Beispiel: Chorerziehung. Es geht nicht darum, Kärntner-Lieder schön und berührend zu singen, es geht auch um die Frage, was denn die Kärntner Lieder so anheimelnd macht. Dann könnte der Gedanke aufkommen, dass die Lieder so schön sind, weil die Wehmut aus dem Slowenischen kommt. Dann hängt das Lied nicht mehr allein in einem schönen Klangraum, dann hängt das Lied in einem politisch sensiblen Kulturraum. Dasselbe gilt gegenüber Diversity in allen Formen. Ich bleibe beim Musikalischen: Jazz, Gospels, Reggae spiegeln schmerzliche Befreiungsgeschichten von Unterdrückten. Wie kamen Sklaven nach Jamaika? Woher die Sehnsucht, warum die Dreadlocks (die an den äthiopischen Löwen erinnern)? Warum die musikalischen Spuren von Underdogs im Tango? Etc. etc. Geschieht das Potenzialefördern ohne solche und ähnliche Sensibilisierungen verbleibt es nur auf der linearen Schiene von Nützlichkeit und Perfektion. Innerlichkeit und Politik, kein Widerspruch (wie die Geschichte der Mystik zeigt), sind immer offen für die Entfaltung der Potenziale. Bildung wie Erziehung werden dann runder, sie zielen nicht mehr auf „Was bringt’s?“. Bildung reinigt sich dann, nähert sich dem Geheimnisvollen als ihrem Kern (um den Wissen gemantelt wird). „Schule“ (das Wort kommt von scholé und heißt, bitte nicht erschrecken, „Muße“) näherte sich dann einem zyklischen Verständnis von „In der Welt sein“. 
Sie näherte sich in Richtung Ganzheitlichkeit, in Richtung Personwerdung (lebenslang). 
Meister Rumi (13. Jh.) hat die Sehnsucht nach dem Ort des Menschen, dem Ort seiner Potenzialien in ein Bergwandergedicht an seinen Freund Tabrizi gekleidet (2005, 25):

Wir stammen von oben,
streben nach oben,
wir stammen vom Meer,
streben zum Meer, (…)
Den Tag unserer Ernte sieh,
o blinde Maus,
wenn du nicht blind bist: sieh,
mit welcher Hellsicht wir streben!
Komm, Shamsuddin Tabrizi,
mit auf unseren Weg,
zum Berge Kaf und zum Vogel
Phönix gehen wir!


Potenzialentfaltung kann, ähnlich wie der Ruf nach Kompetenz, zu einem verdächtigen Zauberwort werden. Manchen Lehrer*innen geht es bei diesen Worten wie einem Verkäufer, einer Verkäuferin, der,,die zwischen 1. November und 24. Dezember 2375 mal Stille Nacht gehört hat und nun unter dem Christbaum mit ihren Kindern noch einmal „Stille Nacht“ singen soll. Es staubt aus den Ohren! Der Missbrauch dieser und anderer (nicht immer so hehren) dauerrieselnden pädagogischen, doch so anständigen, fast schon hehren Worte, liegt um die Ecke. Damit wären wir beim Kern von Potenzialentfaltung:

 

„Der Mensch muss zwar werden, aber das, was er ist“
(Caruso, 1972, 75). 

Literaturangaben

Bastian T. (2019): Der Getriebenheit widerstehen. Plädoyer für eine Kultur der Pause, in: H. Hierdeis (Hg.): Fleiß und Faulheit, Kröning: Asanger, 131-142; 
Caruso, I. (1972): Soziale Aspekte der Psychoanalyse. Reinbek: Rowohlt; 
Rumi, J. (2005): Die Sonne von Tabriz, Darmstadt: Schirner

 

Peter Stöger
Peter Stöger DDr.

Peter Stöger ist Dozent am Institut für Lehrer*innenbildung und Schulforschung an der Universität Innsbruck und Buchautor.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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