Mobbing verstehen

Mobbing ist weit komplexer als angenommen. In Schulen, Kitas und Familien wird heute oft schnell von Mobbing gesprochen – und tatsächlich ist nicht alles, was so bezeichnet wird, auch Mobbing. Umgekehrt wird echtes Mobbing häufig übersehen, weil es als gewöhnlicher Konflikt missverstanden wird. Es wird häufig nicht erkannt und oft nur auf der Symptomebene bearbeitet. Für Betroffene bedeutet Mobbing eine erhebliche psychische Dauerbelastung – oft ein quälender Zustand, der von Angst, Scham und sozialer Isolation geprägt ist.

Weshalb Mobbing oft nicht erkannt wird

Mobbing ist selten auf den ersten Blick sichtbar. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass viele verletzenden Handlungen genau dort stattfinden, wo keine Erwachsenen anwesend sind: auf dem Pausenplatz, auf dem Schulweg, in der Garderobe oder in digitalen Räumen. Kinder und Jugendliche wissen sehr genau, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist – und wählen deshalb Räume, in denen sie nicht beobachtet werden.

Ein weiterer Grund liegt darin, dass Mobbing leicht mit Konflikten verwechselt wird – besonders in Situationen, in denen sogenannte «aktive Opfer» beteiligt sind. Wenn betroffene Kinder versuchen zurückzuschlagen, sich zu wehren oder impulsiv reagieren, entsteht für Außenstehende schnell der Eindruck eines „beidseitigen Streits“. Genau in solchen Momenten wird die Dynamik am häufigsten falsch eingeordnet: Was wie ein Konflikt aussieht, ist in Wahrheit oft der Versuch eines Kindes, aus einer strukturellen Unterlegenheit auszubrechen.

Hinzu kommt, dass Mobbingprozesse in kleinen Schritten verlaufen: abwertende Blicke, subtile Ausgrenzung, Gerüchte, Beschimpfung – unscheinbare Akte, die sich erst über die Zeit zu einem Muster verdichten. Wenn man nur die sichtbaren Einzelereignisse betrachtet, erkennt man die Dynamik dahinter häufig nicht.

Was bei Mobbing nicht funktioniert

Die Differenzierung zwischen Mobbing und Konflikten ist deshalb so wichtig, weil beide völlig unterschiedliche Interventionen erfordern.

Mobbing darf keinesfalls wie ein Konflikt gelöst werden. Wer mit klassischen Konfliktlösungsinstrumenten arbeitet, verschärft die Situation häufig unbewusst – mit der Folge, dass viele betroffene Kinder und Jugendliche keine Hilfe holen, weil sie befürchten, dass alles noch schlimmer wird oder sie als „Petze“ abgestempelt werden.

Konfliktlösestrategien – etwa gemeinsame Gespräche zwischen Täter und Opfer oder Befragungen der Schülerschaft – sind bei Mobbing ungeeignet und können die Situation sogar verschlimmern.

Solche Maßnahmen können für das betroffene Kind retraumatisierend sein und fördern die moralische Abkoppelung der Akteure, welche ihr Handeln rechtfertigen oder bagatellisieren.

Darüber hinaus fehlt bei solchen Ansätzen der systemische Blick: die Wahrnehmung und Einbeziehung der stillen Zuschauer*innen – jener Kinder und Jugendlichen, die nicht aktiv eingreifen, aber durch ihr Schweigen oder Wegsehen die Situation mit ermöglichen. Diese stillen Möglichmacher*innen spielen in jeder Mobbingdynamik eine entscheidende Rolle. Eine nachhaltige Intervention muss alle Schüler*innen in die Verantwortung holen, um die Gemeinschaft zu stärken.

Die Differenzierung zwischen Mobbing und Konflikten ist deshalb so wichtig, weil beide völlig unterschiedliche Interventionen erfordern.

Warum die Schule – und nicht die Eltern – Mobbing lösen muss

Mobbing kann nur dort wirksam gelöst werden, wo die Dynamik entsteht und sich entfaltet: im schulischen System. Auch wenn einzelne Handlungen auf dem Schulweg oder in digitalen Räumen stattfinden, bleibt die Schule die einzig wirksame Institution, die den Prozess unterbrechen kann.
Das liegt nicht nur daran, dass viele Mobbingprozesse im schulischen Alltag entstehen, sondern vor allem daran, dass die Klassengemeinschaft selbst Teil der Dynamik wird. Mobbing ist immer ein Gruppenphänomen – und genau deshalb muss die Veränderung dort ansetzen, wo die Gruppe zusammenkommt und ihre Muster entwickelt.

Eltern können Mobbing nicht selbst lösen.

Eltern können Mobbing nicht selbst lösen. Sie dürfen ihr Kind schützen und begleiten, aber sie sollten keinesfalls versuchen, die Situation eigenständig mit anderen Eltern zu klären. Dies führt in der Praxis häufig zu einer massiven Verschärfung: Es bilden sich Fronten oder Elternlager, Konflikte zwischen Familien wandern zurück in die Klasse und verkomplizieren jede schulische Intervention. Was als gut gemeinter Versuch beginnt, endet nicht selten in einer Dynamik, die das Kind zusätzlich belastet.

Warum Mobbing nicht rezeptartig gelöst werden kann

Das eigentliche Ziel jeder Mobbingintervention darf nicht nur die Unterbrechung der Dynamik sein. Eine nachhaltige Lösung bedeutet immer auch, die Gemeinschaft zu stärken und das betroffene Kind wieder sicher zu integrieren. Genau deshalb kann Mobbing nicht mit einem festen Schema gelöst werden – jeder Fall ist einzigartig und wird von unterschiedlichen Umständen geprägt.

In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass Faktoren im Hintergrund die Dynamik maßgeblich beeinflussen können: etwa, wenn eine Lehrperson das betroffene Kind oder dessen Eltern nicht mag, wenn Konflikte zwischen Familien unbewusst in die Klasse hineinreichen, wenn im Team unterschiedliche Haltungen zu widersprüchlichen Reaktionen führen oder wenn digitale Prozesse die Situation parallel weiter antreiben. Manche Fälle sind klassen- oder sogar schulhausübergreifend und damit noch komplexer.

Diese Elemente machen deutlich: Eine wirksame Intervention kann erst gewählt werden, wenn die Situation als Ganzes verstanden wurde. Bevor entschieden wird, wie vorgegangen werden soll, braucht es eine präzise und sorgfältige Analyse, die die relevanten Bedingungen, Belastungen und Wechselwirkungen sichtbar macht.

Erst auf dieser Grundlage lassen sich Maßnahmen auswählen, die zu diesem konkreten Fall passen, die betroffene Person schützen und gleichzeitig die Gemeinschaft stärken.

Wie Schulen konkret intervenieren können

Wenn feststeht, dass eine Mobbingsituation besteht und die Analyse zeigt, dass sich die Dynamik klar auf der Klassenebene abspielt, können peer-orientierte Methoden sehr wirksam sein. In solchen Fällen hat sich zum Beispiel der «No-Blame-Approach» bewährt. Dabei wird zunächst ein vertrauliches Gespräch mit dem betroffenen Kind geführt. Anschließend bildet die Schule eine Support-Gruppe, die sich zu etwa gleichen Teilen aus verursachenden Akteur*innen und wohlwollenden oder stillen Zuschauer*innen zusammensetzt – also Jugendlichen, die bisher nichts gesagt haben, aber bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Diese Unterstützungsgruppe erhält den Auftrag, das betroffene Kind aktiv wieder zu integrieren, damit es sich sicher und zugehörig fühlt. Die Kinder und Jugendlichen werden damit partizipativ in die Lösung geholt und übernehmen Mitverantwortung für ein respektvolles Miteinander.

Wenn die Dynamik jedoch komplexer ist – etwa, weil sie strukturell verankert ist, klassen- oder schulhausübergreifend verläuft, digitale Prozesse eine Rolle spielen oder Elternkonflikte verstärkend wirken –, reichen peer-basierte Methoden nicht aus. In solchen Fällen braucht es situativ angepasste, professionell geführte Interventionen, die das gesamte System einbeziehen und auf die spezifischen Bedingungen des Falls abgestimmt sind.

Grundsätzlich sollte bei Mobbing nicht mit Strafen gearbeitet werden. Strafende Maßnahmen fördern weder Empathie noch Einsicht und können zu Rachehandlungen oder verdeckter Eskalation führen – einer der Gründe, weshalb betroffene Kinder oft keine Hilfe holen, weil sie befürchten, dass die Situation dadurch schlimmer wird.


Prävention: gelebte Haltung statt punktueller Maßnahmen

Prävention ist der Schlüssel, um Mobbing nachhaltig zu reduzieren. Entscheidend ist dabei, dass Prävention nicht aus einer einzelnen Lektion oder einem Workshop bestehen darf, der nach einer Stunde wieder endet. Das reicht bei weitem nicht aus. Wirksame Prävention entsteht nur dann, wenn eine wertschätzende, gelebte und partizipative Kultur im Schulalltag verankert ist.

Schüler*innen und Eltern müssen Teil dieser Präventionsarbeit sein und sie mitgestalten können. Nur wenn Kinder, Jugendliche und ihre Familien Verantwortung mittragen, fühlen sie sich als wirksamer Teil der Gemeinschaft. Prävention bedeutet also immer auch Beteiligung: Die Haltung der Schule muss sichtbar vorgelebt werden. Es geht nicht darum, den Kindern „Empathie beizubringen“, wie es in manchen Ländern über isolierte Empathiekurse versucht wird. Das ist zu wenig. Entscheidend ist eine Kultur, in der Wertschätzung und Verantwortung täglich praktiziert werden.

Ein zweiter zentraler Bestandteil der Prävention ist das frühzeitige Erkennen und Ansprechen von verletzenden Handlungen – auch dann, wenn sie noch nicht als Mobbing bezeichnet werden. Viele Mobbingprozesse beginnen mit kleinen, wiederkehrenden Situationen: abwertende Bemerkungen, subtile Ausschlüsse, Beschämungen. Solche Muster dürfen nicht als „heutige Jugendsprache“ abgetan werden und auch nicht als Konflikte eingeordnet werden, die Kinder allein lösen sollen.

Wichtig ist, dass diese frühen Dynamiken gesehen, benannt und gestoppt werden.

Wenn diese Wiederholungen und kleinen Verletzungen im Kern ernst genommen und unterbunden werden, kann sich erst gar keine Mobbingdynamik entwickeln. Prävention bedeutet daher, früh hinzuschauen, konsequent zu handeln und eine Kultur zu schaffen, in der Sicherheit, Zugehörigkeit und Verantwortung selbstverständlich sind.

Veranstaltungshinweis

Christelle Schläpfer ist Referentin beim Kongress „Veränderte Kinderwelten“ in Innsbruck.

Dort gestaltet sie:

  • den Abschlussvortrag „(Cyber-)Mobbing: Erkennen, verstehen, wirksam handeln“
  • sowie den Workshop „Mobbing – Wie Eltern und Schule helfen können“

Mehr Informationen zum Kongress "Veränderte Kinderwelten", organisiert von Elternbildung Tirol gibt es hier.

Christelle Schläpfer
Christelle Schläpfer MA

Christelle Schläpfer, MA, ehemalige Gymnasiallehrerin, gilt in der Schweiz als eine der führenden Expertinnen im Bereich Mobbing, Cybermobbing und psychosoziale Dynamiken im schulischen Kontext. Mit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung in der psychosozialen Beratung arbeitet sie an der Schnittstelle von Forschung, Praxis und Schulentwicklung. Sie lehrt an renommierten Einrichtungen wie der Universität Ramon Llull in Barcelona und dem Adler Institut in Paris und führt ihr Training für Fachpersonen in Europa und Lateinamerika durch.

Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Beratung von betroffenen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern sowie die professionelle Begleitung von Schulen, die Unterstützung bei der Prävention, Analyse und nachhaltigen Bearbeitung komplexer Mobbingdynamiken benötigen.

Ihr Ansatz basiert auf der Individualpsychologie nach Alfred Adler und wurde durch jahrelange Praxis in Schulen weiterentwickelt. Er verbindet systemisches Denken, bedürfnisorientiertes Arbeiten und kontextsensitive, maßgeschneiderte Interventionen. Schläpfer betont, dass es im Umgang mit Mobbing keinen universellen Lösungsweg gibt: Jede Situation ist einzigartig und erfordert eine sorgfältige Analyse der individuellen, gruppendynamischen und strukturellen Faktoren.

Im Fokus ihres Handelns stehen stets der Schutz der betroffenen Kinder, die Stärkung der Gemeinschaft und der Aufbau einer wertschätzenden, partizipativen Schulkultur, die frühzeitig schädliche Muster erkennt und Mobbing gar nicht erst entstehen lässt.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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