Liebevoll und entwicklungsfördernd erziehen

Erziehung stellt die wichtigste Aufgabe im pädagogischen Alltag dar. Sie findet dort statt, wo zusammen gelebt wird, wo Erwachsene und Kinder gemeinsam spielen, lernen und in Beziehung zueinander treten. Im Zusammenhang mit der fast sprichwörtlich gewordenen Erziehungs- und Bildungskrise hört man jedoch, dass genau dies immer seltener und weniger selbstverständlich ist.
 

Liebevolle Erziehung ist das ehrliche Bemühen, Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern. (Manuela Oberlechner)
 

Im Gegensatz zu höheren Säugetieren ist der Mensch in den ersten Lebensjahren nicht in der Lage, seine Grundbedürfnisse selbst zu stillen oder sein Leben selbst zu gestalten. Das Heranwachsen ist ein relativ langer Prozess. Durch die ständigen Veränderungen in Wissenschaft und Technik stellt sich dies als lebenslanges Lernen dar. Außerdem unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch seine hohe Lernfähigkeit. Mit der Lernfähigkeit wird auch seine Lernbedürftigkeit deutlich.

Es kommt nicht darauf an, in der Erziehung keine Fehler zu machen, sondern sie zu erkennen und zu korrigieren – jeden Tag neu. Es scheint an der Zeit, sich der Eckpfeiler der Erziehung zu erinnern.  (Sigrid Tschöpe-Scheffler)

Der Mensch ist darauf angewiesen, in seiner Entwicklung unterstützt zu werden. Grundlage des Erziehungsalltags ist das Menschenbild derjenigen, die erziehen. Liebevolle und entwicklungsfördernde Erziehung hat damit zu tun, den Kindern die idealen Startvoraussetzungen für eine gute Entwicklung zu geben. Wenn Eltern und pädagogisches Fachpersonal durch ihre Erziehung die Entwicklung der Kinder fördern möchten, braucht es dafür Liebe, Achtung, Kooperation, Struktur, Förderung, Gemeinschaft und Spiritualität. Sigrid Tschöpe-Scheffler hat ein Modell entwickelt, das diese wichtigen Schwerpunkte in einem Säulenmodell darstellt. 


Das 5+2 Säulen-Modell einer entwicklungsfördernden Erziehung kann pädagogische Fachkräfte und Eltern dahingehend unterstützen, sich ihrer Stärken, aber auch ihrer Schwächen in der Erziehung bewusst zu werden und ihre erzieherischen Fähigkeiten zu erweitern und zu reflektieren.

 

Modelle für entwicklungsfördernde und entwicklungshemmende Erziehung

Modell mit  fünf SÄulen entwicklungsfördender Erziehung
Grafik aus "Fünf Säulen der Erziehung - Wege zu einem entwicklungsfördernden Miteinander"
Modell: fünf Säulen entwicklungshemmender Erziehung
Grafik von Elisabeth Schmutz 19. und 20. Januar 2010

Pädagogisches Personal und Eltern, die den Kindern entwicklungsfördernde Unterstützung geben und sich für die ihnen übertragene Erziehungsaufgabe zuständig fühlen, die mit den Kindern in Beziehung stehen, erfahren, wenn sie diese in ihren Alltag einbeziehen, eine positive Veränderung im Alltag.


Erste Säule: Liebe

„Liebevolle Zuwendung“ liegt dann vor, wenn sich der Erwachsene dem Kind zuwendet, ihm reine Aufmerksamkeit schenkt und es in einer wohlwollenden Atmosphäre anhört und wahrnimmt.
„Direktes Ansprechen“ und ein respektvoller Umgang im Alltag prägen das Kind positiv. Qualität geht hier vor Quantität. 30 Minuten ungeteilte Aufmerksamkeit sind mehr wert, als 3 Stunden einfach nur gemeinsam anwesend zu sein.

Wahrnehmende und sehende Liebe kann einem Kind nicht aus Büchern gelernt werden, sondern muss erfahren und gelebt werden. (Johann Heinrich Pestalozzi)

Liebevolle und wahrnehmende Erziehung zeichnet sich durch sorgfältiges Beobachten aus.
Erwachsene und Kinder sprechen Liebessprachen. Um hier richtig miteinander in Kontakt treten zu können, gilt es, die gemeinsame Sprache zu finden (vgl.: Fünf Sprachen der Liebe von Gary Chapman).

 

Vater und Kind spazieren bei Sonnenuntergang zu einem See
Liebevolle Erziehung

Zweite Säule: Achtung und Respekt

Achtung bedeutet für Janusz Korcak, den Kindern ihren eigenen Weg zuzutrauen und auch zuzumuten; auch wenn es der „allerschlimmste Weg“ wäre, so ist der doch für diesen Menschen der einzig richtige, weil es sein eigener ist. Der Erwachsene muss erkennen, dass das Kind anders ist als er selbst. Er traut dem Kind eigene Weg zu.


Dritte Säule: Kooperation

Je mehr gemeinsame Lebensbereiche vorhanden sind, desto eher wird im beiläufigen Tun, im kooperativen Prozess gelernt. Wenn sich die Welt des Erwachsenen und die des Kindes überschneiden, sind weniger methodische Erziehungsimpulse notwendig.


Vierte Säule: Struktur, Verbindlichkeiten und Grenzensetzung

Grenzen und Strukturen müssen auf Zuwendung und Fürsorge aufbauen. Das heißt, dass Kinder, die Regeln des Zusammenlebens verstehen müssen und sich daraus logische Konsequenzen ergeben. Erwachsene müssen vertrauenswürdig sein und sich auch selbst an die von ihnen gesetzten Grenzen und Regeln halten. 


Fünfte Säule: Allseitige Förderung

Pädagogisches Personal und Eltern bieten eine anregungsreiche Umgebung und machen Kinder bekannt mit Wissenschaft und Technik. Sie beantworten Fragen und unterstützen das Neugierdeverhalten.
Den fünf bekannten Säulen hat Sigrid Tschöpe-Schöffler in ihrer Forschungstätigkeit zwei weitere hinzugefügt.

Die Säulen von Stonehenge beim Sonnenuntergang

Sechste Säule: Gemeinschaft versus Isolation

„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ (afrikanisches Sprichwort) 
Niemand steht mit der Erziehungsaufgabe alleine da. Gemeinsamer Austausch, Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen und Eltern sind wesentliche Entlastungsfaktoren und eine Grundvoraussetzung für liebevolle und entwicklungsfördernde Erziehung. Überforderung macht handlungsunfähig.


Siebte Säule: Spiritualität versus Allmachtphantasien

Der Begriff Spiritualität ist hier nicht spezifisch religiös gemeint. Vielmehr geht es darum, Situationen auf eine Dimension hin zu untersuchen, die mehr ist als das, was unmittelbar sichtbar und planbar ist. Viele Erziehende gehen davon aus, dass sie alles selbst machen, kontrollieren und gestalten müssen. Niemand ist perfekt! Niemand muss perfekt sein! Menschen machen Fehler und sind unweigerlich mit unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert. Nicht das ganze Leben ist planbar. Zu wissen, nicht perfekt sein zu müssen und alles zu kontrollieren, ist unwahrscheinlich heilsam und entlastend. 

Der Treib einer Blume wächst zwischen zwei Zaunlatten heraus.

Mut zur Erziehung!

Im Rahmen von Elternabenden und Workshops mit Pädagoginnen und Pädagogen gibt es oft Situationen, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor scheinbar ausweglosen Situationen stehen und um wirksame Rezepte bitten, um die Situation zu verändern. Leider gibt es diese perfekte Lösung nicht, ebenso wenig wie eine fehlerfreie Erziehung. Eltern und Erziehende tragen ein unvorstellbar großes Wissen in sich und trauen sich oft nicht, dieses zu nutzen, aus Angst vor Fehlern. Sie wollen ihrem inneren Gefühl nicht trauen, aus Respekt davor, etwas falsch zu machen. 

Eine Erziehung, die auf dem Fundament einer annehmenden Haltung steht und von sieben entwicklungsfördernden Säulen getragen wird, ist dann kein abstraktes Modell mehr. „Schatten – oder Hintergrundsäulen“ müssen, als zum Erziehungsprozesse zugehörig, akzeptiert werden und das Bestreben, entwicklungsförderndes Verhalten zu „maximieren“, überwiegen.

Egal, ob als Eltern oder pädagogische Fachkraft – sieh du selbst! Erkenne deine Stärken und Schwächen, akzeptiere sie und arbeite an dir! Mache dich deiner Fähigkeiten und Aufgaben bewusst, ehe du anfängst, Regeln gegenüber den Kindern aufzustellen und Verhaltensweisen zu verändern. Höre auf dein Bauchgefühl und halte dir vor Augen, dass das ehrliche Bemühen, liebevoll und entwicklungsfördernd im Vordergrund steht. Ehrliche Reflexion und wahrnehmende Beobachtung helfen, jeden Tag neu die Herkulesaufgabe der Erziehung zu meistern. 
 

Weiterführende Tipps:

Anita Tschugg
Anita Tschugg

Anita Tschugg ist Elementarpädagogin, Einrichtungsleitung der Kinderkrippe der Kinderfreunde am Rennweg und Family Support Elterntrainerin.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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