Lehre mit Matura (1)

Was brauchen Lehrlinge, wenn sie am „Lehre mit Matura“-Modell teilnehmen, um neben der beruflichen Ausbildung die Matura erfolgreich abzuschließen? Im vorliegenden Bericht schildert die Autorin ihre Erfahrungen aus sechs Jahren Coaching- und Beratungstätigkeit am BFI Tirol. Der Tätigkeitsbereich umfasste die Beratung und Information von Lehrlingen vor dem Aufnahmeverfahren, das Führen der Abschlussgespräche bezüglich einer Aufnahme ins Modell sowie das Coaching während des gesamten Verlaufs bis zum Austritt bzw. dem Abschluss der Matura. Der Bericht soll als Mikroeinblick in die gelebte Praxis verstanden werden.

Allgemeines zu Lehre mit Matura

Seit 2008 gibt es die Berufsreifeprüfung als gefördertes Projekt in Österreich. Seither haben zahlreiche Jugendliche in der dualen Ausbildung an diesem Modell teilgenommen. Die duale Berufsausbildung soll durch die Möglichkeit zur Erlangung der Hochschulreife eine Aufwertung erfahren und mehr junge Leute dazu motivieren, sich für eine Lehre zu entscheiden. Da es sich dabei um eine besonders herausfordernde Bildungsvariante handelt, ist die Betreuung der Lehrlinge durch Coaches über den gesamten Verlauf ein wichtiger Ankerpunkt. Lehre mit Matura folgt in den Grundprinzipen der Berufsreifeprüfung, die es bereits seit 1998 für Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung gibt (vgl. Mayerl, 2016, S. 54).

Für Lehrlinge ist der Besuch der Vorbereitungskurse seit 2008 kostenlos. Der Förderzeitraum umfasst 5 Jahre ab Eintritt ins Modell bzw. 900 Unterrichtseinheiten. Es sind vier Fächer zu maturieren:

  • Mathematik,
  • Deutsch,
  • eine lebende Fremdsprache (in der Regel Englisch)
  • und ein Fachbereich, der sich nach der Art der gewählten Berufsausbildung richtet.

Für Lehre mit Matura gelten außerdem einige gesetzliche Rahmenbedingungen. So muss die erste Maturaprüfung vor dem Ende der Lehrzeit positiv bestanden werden. Die letzte Prüfung darf erst nach bestandener Lehrabschlussprüfung und nach Vollendung des 19. Lebensjahres abgelegt werden. Voraussetzung für die Teilnahme an dem Modell Lehre mit Matura ist ein bestehender Lehrvertrag. Es kann demnach zeitgleich mit der beruflichen Ausbildung und den Maturakursen begonnen werden. Angeboten werden zwei Varianten: das integrierte Modell und das berufsbegleitende. Integriert heißt, dass die Vorbereitungskurse tagsüber während der Arbeitszeit besucht werden, was das Einverständnis des Ausbildungsbetriebes erfordert. Für die entgangene Arbeitsleistung erhält der Betrieb eine Förderzahlung oder es wird mit dem Lehrling eine verlängerte Lehrzeit vereinbart.

Im berufsbegleitenden Modell besuchen Lehrlinge die Maturavorbereitungskurse am Abend außerhalb der Arbeitszeiten. Der Betrieb muss nicht zwingend in die Entscheidung bezüglich der Teilnahme miteinbezogen werden. 

Teilnahmebedingungen

Im normalen Verlauf dauert es dreieinhalb bis vier Jahre, bis die Matura abgeschlossen wird, unabhängig davon, welches Modell gewählt wurde. Wer einmal aus dem Modell aussteigt, kann kein zweites Mal die kostenlose Variante nutzen. Bei Verlust des Ausbildungsplatzes gibt es für die Teilnahme an den Maturakursen Übergangsregelungen. So dürfen z. B. begonnene Vorbereitungskurse beendet werden. Wenn innerhalb von drei Monaten eine neue Lehrstelle angetreten wird, dürfen die Kurse ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Die Berufsreifeprüfung bzw. die Lehre mit Matura befähigt zum Besuch der Bildungsangebote im tertiären Bereich (Universitäten, Hochschulen, Kollegs etc.) und ist der schulisch erworbenen Matura gleichgesetzt. Durchgeführt werden die Vorbereitungskurse von Bildungsanbietern der Erwachsenenbildung (BFI, WiFi, VHS u.a.), die pro Bundesland von einer Projektorganisation geführt und koordiniert werden. Seit 2017 wird die Lehre mit Matura als Zentralmatura geführt (vgl. Dornmayr, Löffler, 2022, S. 108). Um daran teilnehmen zu können, muss ein mehrstufiges Aufnahmeverfahren durchlaufen werden, beginnend mit dem Besuch einer Informationsveranstaltung. Es werden verschiedenste Formate dazu angeboten, die sowohl in Präsenz als auch online von Bildungsanbietern durchgeführt werden.

Als zweiter Schritt erfolgt die Teilnahme an einem Aufnahmetest in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch. Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme an den Maturakursen ist die Beherrschung der Inhalte auf Niveau der 8. Schulstufe (AHS-Niveau). Vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung als Fördergeber wird außerdem eine Potentialanalyse sowie ein Motivationsschreiben verlangt.

Als dritter Schritt folgt ein ausführliches Abschlussgespräch mit einer im Auftrag vom Bildungsanbieter geeigneten Person, das über eine Aufnahme in das Fördermodell entscheidet.

Woher kommen die Teilnehmer*innen?

Zwischen 2017 und 2023 wurden ca. 300 Lehrlinge begleitet. Die Ergebnisse zu den Beweggründen für eine Teilnahme am Modell generieren sich aus mehr als 700 Texten zum Thema „Warum möchte ich die Matura machen“, die in diesem Zeitraum im Rahmen des Aufnahmeverfahrens von Lehrlingen verfasst und in das Abschlussgespräch miteinbezogen wurden.

Lehrlinge, die sich für die Teilnahme an Lehre mit Matura interessierten, setzten sich aus Absolventen*innen von Mittelschulen, Polytechnischen Schulen und Landwirtschaftlichen Lehranstalten sowie Abbrecher*innen aus weiterführenden Schulen zusammen, wobei der Anteil an Schulabbrecher*innen tendenziell höher war. Die Schulabbrecher*innen kamen aus berufsbildenden mittleren und höheren Schulen sowie – zu einem weit größeren Anteil – aus Gymnasien.

Berufsfeldbezogen lässt sich feststellen, dass sich die Lehrlinge im dargestellten Zeitraum auf ca. 32 verschiedene Lehrberufe verteilt haben, die sich überwiegend technischen und kaufmännischen Berufsfeldern zuordnen lassen. Aber auch Lehrlinge aus Berufen wie etwa Landschaftsgärtner*in/Florist*in, Molkereifachfrau/-mann oder Konditor*in haben sich für Lehre mit Matura entschieden, ebenso Lehrlinge aus Gesundheitsberufen wie Zahntechniker*innen, Zahnarztassistenten*innen oder Optiker*innen.

Gründe für die Teilnahme

Als Hauptmotivation für die Teilnahme wurde die Möglichkeit genannt, später einmal ein Studium absolvieren zu können. Neben dem Wunsch, einfach grundsätzlich die Möglichkeit dazu zu haben, wurden auch konkrete Pläne formuliert, mit Angabe zum gewünschten Studienzweig. Ein weiterer Grund war, generell bessere Jobchancen zu haben. Lehrlinge waren der Meinung, dass Unternehmen in Zukunft generell eher Fachkräfte mit höheren Bildungsabschlüssen den Vorzug geben würden, oder sie hätten durch die Matura eine bessere Position, wenn es um innerbetrieblichen Aufstieg gehe. Die finanzielle Anerkennung durch eine abgeschlossene Matura war ebenso ein Anreiz wie die Möglichkeit, mit Hilfe der Matura später leichter andere berufliche Wege einschlagen zu können.  
Ein weiterer Grund für die Teilnahme am Modell war Weiterbildung bzw. kostenlose Weiterbildung. Für Schulabbrecher*innen aus höherbildenden Schulen war ein wichtiger Aspekt, dass sie auf diesem Weg doch noch zur „ihrer“ Matura kommen können. Nicht zuletzt war die persönliche Anerkennung wichtig sowie sich selber oder jemand anderem zu beweisen, diese Herausforderung schaffen zu können. Eine der Anforderungen vom Fördergeber ist, dass für alle interessierten Lehrlinge die Möglichkeit zur Teilnahme bestehen muss.

In der Praxis hat sich gezeigt, dass seit einigen Jahren die Akzeptanz der Betriebe, ihre Lehrlinge während der Arbeitszeit Maturavorbereitungskurse besuchen zu lassen, zugenommen hat. Waren es zunächst überwiegend größere Unternehmen (vgl. Mayerl, 2016, S. 55), werben inzwischen ebenso Klein- und Mittelbetriebe bei Lehrstellenangeboten gerne mit dem Hinweis auf die Möglichkeit zur Teilnahme an der Lehre mit Matura. In der Praxis konnte, vermutlich aus diesem Grund, in den letzten Jahren (ab 2020/2022) ein höherer Zulauf zum integrierten Modell festgestellt werden. 

Nicht zuletzt war die persönliche Anerkennung wichtig sowie sich selber oder jemand anderem zu beweisen, diese Herausforderung schaffen zu können.

Verlauf der Vorbereitungskurse

Die Maturavorbereitungskurse starteten im hier dargestellten Praxisbericht immer Anfang Oktober. Je nach Veranstaltungsort konnten die Lehrlinge mit einem der Fächer Englisch, Deutsch oder Mathematik beginnen. Je nach gewähltem Modell dauerte ein Vorbereitungskurs zwischen zwei (integriertes Modell) und vier Semestern (begleitendes Modell).

  • Das Fach Englisch war für die meisten Lehrlinge sehr gut zu bewältigen. Besonders in den letzten beiden Jahren fiel auf, dass das Sprachniveau in diesem Fach stark gestiegen ist. Bereits bei den Aufnahmetestungen hatten Lehrlinge hier kaum Probleme. Ein möglicher Grund dafür kann in der vermehrten Nutzung von englischsprachigen (Online-)Medien vermutet werden.
  • Das Fach Deutsch zeigte sich hingegen als schwierig und von Lehrlingen häufig unterschätzt. Neben mangelnden Rechtschreib- und Grammatikkenntnissen fehlte es oft an grundsätzlichem Leseinteresse. Aus zahlreich geführten Gesprächen mit den Lehrlingen ergab sich, dass es ihnen gerade für dieses Fach oft schwerfiel, sich zu motivieren.
  • Das Fach Mathematik stellte für viele Lehrlinge die größte Herausforderung dar. Obwohl von Seiten der Lehrpersonen die Inhalte didaktisch sehr gut aufbereitet wurden, scheiterten viele vor allem, weil der zeitliche Lernaufwand unterschätzt wurde. Generell ist Zeitmanagement ein entscheidender Faktor, ob die Matura letztendlich erfolgreich abgeschlossen werden kann und ist daher im Coaching ein zentrales Thema.
  • Die Fachbereiche werden allgemein als letztes Fach maturiert. Da sich die meisten Teilnehmer*innen parallel zum letzten Maturafach auf die Lehrabschlussprüfung vorbereiteten, waren Zeitmanagement und Lernorganisation zu diesem Zeitpunkt noch einmal wichtige Fragen, um das „Projekt Matura“ zu finalisieren.
     

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Astrid Laiminger PhD
Astrid Laiminger PhD Mag.

Astrid Laiminger ist Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Tirol und wirkt am Institut für berufsbildende und allgemeinbildende Studien. Sie ist zuständig für die Koordination - Praxistransfer.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-ND.

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