Glosse: Notfall in der Semmelefabrik

Der Direktor hieß Saurwein, von uns, so originell nun auch wieder nicht, Essig genannt. Man möchte meinen, dass uns Pubertierenden die Schule deswegen sauer aufstieß. Wohl aus vielen Gründen, aber nicht deswegen. Er war durchaus menschlich. 

Saurwein war Direktor an der Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt, dort wurden die zukünftigen Lehrer und Lehrerinnen herausgebacken. Die Lehrer- und Lehrerinnen-Semmelefabrik lieferte uns nach fünf Jahren, solange dauerte diese Berufsbildungsanstalt, in die wir mit 14/15 eintraten und mit 19/20 mit Flaum (die Pubertät dauerte in den Sechzigerjahren einfach ein bisschen länger) und Matura versehen, in Richtung Landesschulrat wieder aus. Wir waren natürlich hausbacken, die angebratenen Semmelen waren aber die, die später den Kindern Sorgen bereiteten. 
Wir hatten tüchtige pädagogische Bäckermeister. Sie waren die k.u.k. Hoflieferanten für besagten Landesschulrat. Der Landesschulinspektor für Pflichtschulen war der frühere Hausherr und sollte, gemäß der schulherrlichen, pardon schulherrischen, Nomenklatura noch unsere Matura präsidieren. Er tat es in einer Weise gnädig, dass uns Lehrerstudenten-Semmelen auch wirklich kein Brandgeruch anzumerken sein sollte. Der Dauerbrandgeruch kam nur vom Essig. Doch darüber später. 

Mädchen und Burschen waren damals noch a-sepetisch getrennt, dokumentiert durch eingezogene Glaswand im langgestreckten Direktionsgang. Dort konnten wir dann und wann die Mädchen wie im Aquarium besichtigen. Dass sie uns an Reife überlegen waren, naja die Natur lieferte eben damals schon so manche Kapriolen.

Unser Schulwart hat sich eingeschrieben. Über ihm schwebte der Spruch „Ich und der Herr Direktor haben beschlossen“. Ein Running Gag über Generationen in der Fabrik.
Unter Saurweins Ägide war der Schulwart aber nicht nur kulinarisch gegenwärtig, er hatte auch ein Auge für den Garten, das kulinarische Hinterland, das Lehrmittel- und Leermittelland für Landwirtschaft und Gemüseanbau. Der dann zuständige Lehrer dafür war von uns Humus getauft. Das heißt, wir haben den Spitznamen nur übernommen und dann einfach inventarisiert weitergegeben. Er war der Dürrste in der ganzen Semmelfabrik. Humus und Essig wetteiferten wohl, wer der Dürrste von ihnen war. 

Aber in puncto Kulinarik war Essig der Weltmeister. Den Eindruck hatte aber interessanterweise nur ich. Warum? Vorausgeeilt! 
Also zurück: Nein, er war kein „charming boy“. Er hieß nicht nur Essig, er verbreitete diesen Eindruck geradezu sinnlich, fast schon olfaktorisch. Und trotzdem hatte ich mit ihm die nächste Beziehung, wenngleich diese zeitlich eher einmalig war. Worum ging es? Er hatte eine ausgeprägte Schwäche. Sein Hauptlebensmittel war nämlich, obwohl durchaus pflanzlich, kaum in Kalorien messbar. 

Er lebte von den „Smart“. Er selber war es nicht. Aber seine, richtig geraten!, Zigaretten waren es schwarz auf weiß. In diese Farbkombination war nämlich seine präferierte Zigarettenpackung eingewickelt. In den fünf Jahren unserer Lehrerbildungsanstalt, die wir noch pubertär begannen und spätest-pubertär verließen, habe ich ihn pausenlos rauchen gesehen. Mir schien als wäre das d a s Lebensmittel, das ihn am Leben hielt. Um es zu ergänzen: Die Adoleszenz stellte sich bei den meisten von uns irgendwie erst später ein. Dass bei unserem Abschlusszeugnis Reifezeugnis stand, das musste wohl ein Druckfehler gewesen sein, gegen den wir aber, nicht eben konsequent, keinen Einspruch erhoben haben.

Und dann passierte es, dass ich bis heute an Essig freundlich, ja warmherzig, denke. 
Das kam so. Es war ein GAU (der Größte Anzunehmende Unfall)! Die Zigaretten waren ausgegangen. Ich glaube, ein Brandausbruch bei einem missglückten Physikversuch hätte ihn nicht so sehr durcheinander gebracht. Das „Hurra, die Schule brennt“ hat sich nie eingestellt. Und dann kam zum GAU, der GAZ (der Größte Anzunehmende Zufall). Zufällig war ich nämlich, warum immer, bei der Feststellung dieses Katastrophenfalles vor seiner Direktionskanzlei. Und ich war der erste, den die Nachricht ereilte. Sofort von allen schulischen Aktivitäten befreit, hatte ich mich auf den Weg zur nächsten Tabaktrafik zu machen, um nach Notfallplan die Grundnahrungsmittelversorgung für die ganze Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt sicherzustellen (eigenartig: wir haben damals schon gegendert. Es tschinderte und tschenderte damals schon in Tirol). Ja, ich wurde damit zur Stütze des ganzen Bildungssystems von Tirol. 

Wenngleich ich den Lehrausgang ins Freie genoss, so wusste ich instinktiv doch, dass ich ihn nicht über Gebühr zappeln lassen konnte. Das heißt, es war eine strenge Abwägung zwischen, erstens: Was hält er gerade noch abstinent aus und zweitens: Wie viel Zeit verträgt es kalkulatorisch, die unterrichtsfreie Zeit auch ein bisschen genießen zu können.  

Smartbewaffnet traf ich dann ein und überbrachte Essig die Notration. Und ... er lächelte. Essig lächelte. Und ich wurde Zeuge! Smart war er, der Essig!
Er war so glücklich, dass er mir zehn Schilling Trinkgeld gab. Heute wäre das ein knapper Euro, aber monetär war das damals viel mehr. Heute wären es wohl fünf Euro und gefühlte zwanzig Euro. Gemütsmäßig war es sowieso unbezahlbar. Es war eine echte Win-win-Situation. Er glückselig, ich glückselig. Seitdem mochte ich ihn. Das blieb bis heute. Zurückgekehrt ins Klassenzimmer, erklärte ich natürlich sofort, in welch staatstragender Funktion ich dringend abwesend gewesen war, ja an der Rettung der Bildungslandschaft Tirol beteiligt war. Und überall bekam ich Bestätigung und kleines Augenzwinkern.
 
Leider starb mein Essig noch während unserer Schulzeit. In einem langen Zug ging es von unserem beeindruckenden spätklassizistischen, durchaus imperialen Schulhaus, (in symbolischer Nähe zur Schmerlingeralm, dem ehemaligen Gefängnis) zum Westfriedhof. 
Ich war betroffen. Lange noch besuchte ich ihn am Friedhof. Dort traf ich gelegentlich seine Frau. Sie hat dann diesen anhänglichen Schüler wohl auch ein bisschen eingeschlossen.

Lieber Essig. Aus mir wurde, von ein paar Zügen in der Jugend abgesehen (was tut man nicht alles fürs Angeben und Dazugehören), ein Nichtraucher. Nicht etwa ein fanatischer. Nein, aus einem banalen Grund. Das Zeugs schmeckte mir nicht.
Lieber Herr Direktor, respektvoll geliebter Essig! Das Nichtraucher-Volksbegehren, das es 56 Jahre nach Ihrer Heimkehr ins Raucherparadies 2021 in Österreich gegeben hat, habe ich, entgegen meiner Überzeugung, nicht unterschrieben. Mein Papa war auch Kettenraucher und starb in seinem 102. Lebensjahr, was seinen Arzt veranlasste, ihm zu sagen: Ja, wenn das so ist, fange ich auch noch an! 
Manche Argumente gegen diese Lebensmittelversorgung, von wegen lebensverkürzend, greifen nicht. 
Ja, und wenn ich einmal dort oben Sie und Papa treffe, werde ich mich meiner kleinen Jugendsünden wieder erinnern und im himmlischen Raucherstübchen eine Runde mitrauchen. Ehrensache! 

Sonnenuntergang in den Bergen mit Wolken, die rosa leuchten.
Peter Stöger
Peter Stöger DDr.

Peter Stöger ist Dozent am Institut für Lehrer*innenbildung und Schulforschung an der Universität Innsbruck und Buchautor.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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