Glosse: Der Stoani und der Tatzlwurm

Er, Erwin Steinlechner

Er, Erwin Steinlechner (1928–2021), war mein gestrenger Hauptschullehrer und später mein Innsbrucker Stadtschulinspektor. Wir waren ziemlich unterschiedlich. Aber der Reihe nach:

Kurzschrift und Maschinschreiben habe ich bei ihm gelernt. Eine Nachhaltigkeitsprüfung würde das System „Schule“ von damals eher nicht bestehen: Kurzschrift habe ich nie gebraucht und was das Maschinschreiben, nun auf Computer, betrifft, so schreibe ich, wie ich begonnen habe, mit zwei Fingern, dafür aber flott (das habe ich gelernt).

Wir waren Stoanis Abgänger aus der Müllerschule, einer damaligen Hauptschule, die nun, deren drei, in der Tiroler Lehrerfabrik gelandet waren. Von dort aus haben wir ihm gelegentlich Besuche abgestattet, waren wir doch „Kollegen in spe“. Mittlerweile war aus Stoani ein Direktor geworden. Das hat allen gefallen.

Unsere Lebenswege sollten sich wieder kreuzen. Mittlerweile hatte ich die ersten Lehrjahre als Lehrer hinter mir und er war zum fast allmächtigen Schulinspektor und zum Wackerpräsidenten avanciert. Ersteres verband uns dienstlich, er war auch nicht ganz unschuldig, dass ich an die Innsbrucker Pädak kam, Zweiteres war aber nur in Milchstraßenentfernungen messbar.

Was mir auffiel: Immer, wenn wir uns trafen, war Schule eigentlich Nebenthema. Ich glaube, er mochte es, dass es außerhalb von Schule auch noch Leben gab.
Die Lebenswege kreuzten sich nochmals, diesmal ein bisschen schräg. Ich war mit seiner Hilfe Übungshauptschullehrer geworden, dort, also wo Lehramtsstudent*innen an der Pädak lernten, pädagogische Brötchen zu backen ...
Da hatte sich eines Tages Besuch angesagt. Ein Sektionschef aus dem k und k (es war die Kreisky-Kirchläger-Zeit) – Wien. Ein Sektionschef aus dem Unterrichtsministerium kam. Er war hierarchisch gleich nach Zeus bzw. Jupiter angesiedelt (oder war’s doch davor?).

Da haben wir uns wiedergesehen. Großes Gegackere im pädagogischen Hühnerhof. Also der Sektionschef himself, der LSI, der BSI (besagter Stoani), der Pädak-Direktor, der Abteilungsleiter und der Übungshauptschuldirektor, mittlerweile alle schon im pädagogischen Götterhimmel, scheuchten alles auf. Der Trupp landete zu guter Letzt bei mir im Unterricht, beim kleinsten didaktischen Rädchen hiernieden. Ich habe blitzschnell, mit den Schüler*innen abgestimmt, auf das Lieblingsfach „Geschichte“ umgeschaltet: Zweiter Weltkrieg. Die Kinder taten mit und ließen mich nicht hängen. Sie ahnten wohl, dass der Stress bei mir und nicht bei ihnen lag. Der Trupp bestätigte in Folge das Vorurteil „Lehrer*innen sind schlecht im Zuhören“.

Der Staatsbesuch samt Staffage würdigte mich und die Kinder kaum eines Seitenblicks und nach einer herzlich durchschwatzten Stunde verließ der Tatzlwurm mit durchaus freundlichem Gebrummel und einem kleinen Augenzwinkern von Stoani die Schulstunde. Etliche wären in solcher Situation wohl an einem Herzkasperl vorbeigeschrammt, zumal besagter Besuch für uns pädagogische Straßenarbeiter*innen erst eine Stunde vor der gottsoberen Erscheinung aus dem Götterhimmel angekündigt worden war.

Ein Teller mit einem gedeckten Apfelkuchen und Schlagsahne und eine Tasse Kaffee
Ein gelegentliches Schwätzchen bei Kaffee und Kuchen.

Wiedersehen im Altersheim

Dann hörte ich Jahrzehnte nichts mehr von Stoani. Beinahe wäre es so geblieben, bis, ja bis ich ihn im Altersheim wiedertraf. Dort gibt es ein Restaurant, das ich gelegentlich besuche. Was mir bei gelegentlichen Schwätzchen, bei Kaffee und Kuchen (ganz ohne den pädagogischen Sauerrahm), auffiel: Schule war nicht mehr großes Thema. Dafür „Wildmoos“ wo Stoani rund fünfzig Jahre eine Ferienkolonie für Innsbrucker Schulkinder geleitet hat. Ihm galt sein in alt-junge Jahre gekommenes Herz. Da bekamen seine Augen Glanzlichter.

Wenngleich durchaus machtbezogen, hat er, kein Widerspruch, doch ein Sensorium dafür gehabt, dass Stillstand der Schule schadet. So öffnete er, den entscheidenden Türspalt breit, die Stadtschule hin zur Montessoripädagogik. Er – und das machte ihn irgendwie sympathisch – versteckte sich dabei erst gar nicht: die pädagogische Macht gefiel ihm.
Diese Ehrlichkeit imponierte mir. Ich habe doch etliche Pädagog*innen kennengelernt, die, schon prima vista erkenntlich, ihre Machtallüren humanistisch mit Zitatenaufstrich garnierten (wohl in der Hoffnung, sie würden bei ihrem Appetit nicht ertappt).
Stoani hingegen genoss sein Inspektorsein ganz ohne trabende Cicerozitate.

Pädagogisch gehörte Stoani seit Luggers Zeit, zum Machtzentrum „Girstmair“, damals allmächtig. Sozis standen eher unter Artenschutz.
Dem Alphamenschen war eines wichtig, die Hierarchie. War die klar, konnte er recht umgänglich sein. Freilich mit dem nötigen Abstand. Dieser Abstand, früher oft maßlos überbetont (aber es waren wirklich andere Zeiten), wird heute vielfach übersehen, was paradoxerweise autoritative Strukturen, die Stoani noch ganz selbstverständlich lebte, nun nur verschleiert, wieder zu verstärken scheinen. Da war der Stoani in der selbst-auferlegten natürlichen Distanz direkter.
Das machte die Achtung aus, die ihn begleitete, eine Achtung, der sich so manche anfänglich erst furchtsam annäherten.

Fraternisieren war im Schulischen nicht das Seine. Seine Distanz war aber immer freundlich, förderlich und respektvoll. Er war nicht der Typ, der nach dem zehnten Gläschen einem, einer, auf die Schulter schlägt und sagt: „Darfst schon Du zu mir sagen!“
 

Seine Distanz war aber immer freundlich, förderlich und respektvoll.

Ich grüße ihn von einem Stern zum anderen

Humanistisches Gesäusel und humanistische Sträuselworte waren ihm, Gott sei’s gedankt, im Gegensatz zu manchen hochgeschraubten Freund*innen des (Ein-)Bildungssystems, ein spezielles pädagogisches Kastensystem, fremd. Das machte sein Sprechen einschätzbar, übersichtlich und frei von bildungsbürgerlichen Duseleien.

In seiner Inspektorszeit erkundigte er sich gern nach meiner Uniwelt. Er zu mir, ich zu ihm, wir begegneten uns wie Bewohner von verschiedenen Sternen. Ich glaube, er war froh, einmal nicht über Wacker zu reden. Jede*r sprach ihn darauf an und es gab sogar Klassenräume mit Wackerfähnchen. Diesen Braten scheint er wohl gerochen zu haben.

Ja, von zwei unterschiedlichen Sternen waren wir. Das respektiert zu haben, war wohl der Grund für die Achtung, die uns über sechzig Jahre begleitet hat. Das ist es, was ich von ihm lernen durfte: Immer gilt „There is an another world!“ Wir müssen sie nicht betreten, wir müssen nur deren Vertreter*innen achten. Das haben wir gut hinbekommen ;-))

Ich grüße ihn von einem Stern zum anderen, obwohl er mittlerweile ja das ganze Sternenzelt überschaut. Wie er mir seinerzeit beim Überfall in der Übungshauptschule zublinzelte, so morst er mir heute von „dort oben“ zurück.
Möge er mir dort oben ein besonderes Erden-Himmelssternchen, die Anne Frank, in der pädagogischen Etage, gleich neben Don Bosco und Father Flanagan zu finden, grüßen. In Annes Tagebuch sprudelte eine Pädagogik, die zu leben und zu erleben jetzt schon ein Stückchen Himmel herunterrutschen ließe ...
Ach ja, spiegelte sich da am Wildmoosersee nicht gerade ein Stückchen Silberblau?

Peter Stöger
Peter Stöger DDr.

Peter Stöger ist Dozent am Institut für Lehrer*innenbildung und Schulforschung an der Universität Innsbruck und Buchautor.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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