Das ist ja so umständlich!

Mein Sohn kam letztens von der Schule nach Hause und gab mir folgenden Text zu lesen:
Ein Vater fuhr mit seinem Sohn im Auto. Sie verunglückten. Der Vater starb an der Unfallstelle. Der Sohn wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und musste operiert werden. Ein Arzt eilte in den OP, trat an den Operationstisch heran, auf dem der Junge lag, wurde kreidebleich und sagte: „Ich bin nicht im Stande zu operieren. Dies ist mein Sohn.“ 

Bei der anschließenden Besprechung in ihrer Gruppe diskutierten sie lange, wie der Text zu verstehen sei und wer damit gemeint sein könnte. Alle waren davon ausgegangen, dass der „Arzt“ ein Chirurg sei. An eine Chirurgin hatte niemand gedacht. In einschlägigen Kreisen ist dies ein bekannter Text, aber mein Sohn hatte noch nichts davon gehört.

Im Deutschen wird häufig allein die männliche Form verwendet, mit dem Argument, Frauen seien mitgemeint. Außerdem gefährde es die Lesbarkeit von Texten, beide Geschlechter zu nennen. Beides ist wissenschaftlich widerlegt. 
Vor zwei Jahren (Anm. d. Red.: Ersterscheinung des Beitrags Herbst 2016) hat die Universität Leipzig beschlossen, ihre Grundordnung im generischen Femininum zu verfassen, also anstatt männlicher ausschließlich weibliche Bezeichnungen wie „Professorinnen“ und „Studentinnen“ zu verwenden. Es schlug hohe Wogen. Dabei ist das Konzept in unserem Alltag üblich – wenn auch umgekehrt, Frauen sind „mitgedacht“.
 

Was ist gendersensible Sprache?

Das vorhin genannte Beispiel zeigt uns, wie sehr männlich genannte Formen Frauen „mitmeinen“. Es handelt sich hierbei um das sogenannte „generische Maskulinum“. Der „Arzt“ könnte aus dem vorherigen Beispiel demnach ein Mann oder eine Frau sein. Zahlreiche sprachwissenschaftliche Studien belegen, dass Sprache nicht nur gesellschaftliche Strukturen prägt, sondern auch unsere Wahrnehmung. 
Das Selbstverständnis von Kindern beispielsweise nimmt unter anderem erst durch sprachliche Bilder Konturen an. Kinder assoziieren bei einem generischen Maskulinum keine mitgemeinten Frauen, sondern hören darin die männliche Form. Das kann bedeuten, dass ein Mädchen sich nicht ohne weiteres mit einem Forscher, Mathematiker oder Feuerwehrmann identifizieren kann. Genauso wenig werden sich Burschen zum Beispiel als Sekretärin sehen.

Gendersensible Sprache bedeutet:

  • Eindeutigkeit: Sprache ist so zu verwenden, dass aus dem jeweiligen Text klar hervor geht, wer gemeint ist.
  • Repräsentation: Sprachliche Formen sind zu finden und zu verwenden, die alle Geschlechter adäquat repräsentieren und durch die sich alle angesprochen fühlen.
  • Anti-Diskriminierung: Sprache ist so einzusetzen, dass sie nicht diskriminierend ist. 

 

Rechtliche Verpflichtung 

Damit Schüler und Schülerinnen sich besser identifizieren können, empfiehlt das Bundesministerium für Bildung bis inklusive der Sekundarstufe I die explizite Nennung der weiblichen und männlichen Form zu lehren und keine Sparschreibungen zu verwenden. Sparschreibungen sollen in der Sekundarstufe II im Unterricht thematisiert werden. Grammatikalisch falsche Formulierungen infolge einer Sparschreibung sind im Unterricht zu besprechen. 

Bei sogenannten „Sparschreibungen“ werden weibliche und männliche Endungen durch einen Schrägstrich getrennt (der/die Schüler/in bzw. die Schüler/innen) oder es wird anstelle des Schrägstrichs ein großes „I“ („Binnen-I“) geschrieben (SchülerInnen).
 

 

Fotowand in einer Kunstausstellung mit vielen menschlichen Gesichtern

Wie lässt sich das umsetzen?

Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, gendersensible Sprache einzusetzen, hier nur die wichtigsten Umsetzungsmöglichkeiten. 

Sie lassen sich grob in zwei Strategien, „Neutralisieren“ und „Sichtbarmachen“, zusammenfassen. Neutrale Formulierungen machen das Geschlecht „unsichtbar“. Die Strategie des Sichtbarmachens dagegen zeigt die Vielfalt der Geschlechter.

  • Geschlechtsneutrale Formulierungen beziehen sich auf beide Geschlechter, machen aber weder Frauen noch Männer sprachlich sichtbar. Aus stilistischen Gründen und zur Verbesserung der Lesbarkeit sind neutrale Formulierungen geeignet, sollten aber mit Schreibweisen abgewechselt werden, die das Geschlecht sichtbar machen. 
    Es gibt dafür Personenbezeichnungen, die sowohl im Singular als auch im Plural genderneutral sind (die Person, der Mensch, das Kind). Im Plural gibt es verschiedene Möglichkeiten, Personen zu benennen, ohne Auskunft über ihr Geschlecht zu geben (die Lehrenden, die Studierenden, die Jugendlichen).
    Auf jeden Fall wird unsere kreative Fähigkeit gefördert, wenn wir geschlechtsneutral formulieren wollen und das hilft allen Parteien.
     
  • Sichtbarmachen des Geschlechts bedeutet zunächst einmal, klarzustellen, ob es sich um Frauen oder Männer oder um Menschen jenseits des binären Systems handelt. Der große Vorteil des Sichtbarmachens ist, dass es Eindeutigkeit schafft und für eine korrekte mentale Repräsentanz sorgt. Unter Repräsentanz sind die bildlichen Vorstellungen zu verstehen, die Sprache in uns hervorruft. 
    Dass es sich um Frauen und Männer handelt, kann mittels Beidnennung (liebe Schülerinnen und Schüler), Splitting (ein/e Schüler/in) oder Binnen-I (LehrerInnenbesprechung) gezeigt werden. 
    Das allgemein etablierte Geschlechtersystem geht von der Existenz zweier klar bestimmbarer Geschlechter, nämlich Männern und Frauen, aus. Es ist somit binär. Aktuelle Forschungen zu Inter- und Transsexualität zeigen jedoch, dass dieses binäre System nicht mehr haltbar ist. Heutzutage wird von einer Vielzahl geschlechtlicher Identitäten ausgegangen, die durch den Gender-Gap (Student_innen) oder durch Gender-Sternchen (Studenten*innen) dargestellt werden können. 

Aber das braucht doch keiner?

  • „Gendersensible Sprache ist kompliziert, umständlich, unnatürlich und missverständlich.“ 
    Gendersensible Sprache kann in der Tat kompliziert sein, wenn sie kompliziert angewendet wird. Es stimmt, dass es mit Arbeit verbunden ist, aber mit geeigneten Formulierungen bleibt der Lesefluss ungestört.
    Beim Einwand der Unnatürlichkeit stellt sich die Frage, wo es überhaupt die Natur der Sprache gibt? Müssten wir heute einen Goethe in der Originalfassung lesen, würden wir kaum etwas verstehen. Sprache lässt sich als Phänomen beobachten und beschreiben, welches einem ständigen von den Sprechenden/Schreibenden erzeugten Wandlungsprozess unterliegt. 
    Missverständlich ist die gendergerechte Sprache keinesfalls, eher das generische Maskulinum verursacht Missverständnisse.
     
  •  „Frauen sind doch mitgemeint!“
    Eine Studie belegt, dass Kinder im Grundschulalter das generische Maskulinum noch nicht verstehen. Das heißt, sie stellen sich, wenn ein generisches Maskulinum verwendet wird, nur männliche Vertreter der bezeichneten Gruppe vor. 
     
  •  „Das kann man nicht gut lesen und auch nicht gut verstehen.“
    Das stimmt nicht. Es gibt Studien, die klar das Gegenteil beweisen. Drei Gruppen von Männern und Frauen wurde ein Medikamentenbeipackzettel gegeben in drei verschiedenen Versionen, einmal mit einem generischen Maskulinum, einmal mit dem Binnen-I, und einmal mit Beidnennung. Im Ergebnis waren die Erinnerungsleistungen gleich gut, woraus zu schließen ist, dass auch das Verständnis gleich gut gewesen sein muss.

    Besonders an den Schulen können wir aktiv durch gendergerechte Sprache Schülerinnen und Schüler sensibilisieren und hierarchische Strukturen aktiv aufbrechen. 
     

Die Verwendung von Sprache zeigt die Realität. Sprache ist Ausdruck des Bewusstseins. Sie beeinflusst maßgeblich unser Denken und das Bild, das wir uns von der Wirklichkeit machen. Sprache ist ein Produkt der Kultur. Sie spiegelt Norm- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft wider. 

Es liegt an uns, Gleichberechtigung zu schaffen und geschlechtergerecht in Sprache und Bild zu werden. 

 

www.bmbf.gv.at/ministerium/rs/formulieren_folder2012_7108.pdf
Zugriff: 2016

bunte Fotowand mit vielen Gesichtern
Ingrid Jehle
Ingrid Jehle Prof. Mag. PhD.

Ingrid Jehle ist Hochschullehrerin an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule - Edith Stein (Standort Innsbruck/Stams).

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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