Die Suche nach der eigenen Identität bei Kindern und Jugendlichen

Identität ist die Art und Weise, wie Menschen sich selbst aus ihrer Biografie heraus in einer ständigen Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt wahrnehmen und verstehen. Eine zentrale Entwicklungsaufgabe, für die junge Menschen mehr oder weniger Zeit und Begleitung brauchen. 
In diesem Beitrag setzt sich Marcel Franke mit der Suche nach der eigenen Identität und möglichen Krisen auseinander und gibt Anregungen, wie Erwachsene Kinder und Jugendliche in dieser Zeit begleiten können. 

Lern- und Lebensaufgabe: die eigende Identität

Im Übergang vom Kindes- zum Jugendalter ist die Entwicklung einer eigenständigen Identität eine der zentralen Lernaufgaben. Manche Jugendliche tun sich damit leicht und finden über diese Transformation in die Rolle zu ihrem erwachsenen Ich. Andere benötigen dafür mehr Zeit und mehr Begleitung.

In der Schulsozialarbeit und der Jugendberatung wird die Adoleszenz oft als „Identitätskrise“ beschrieben. 

Diese Lebensphase ist eine von mehreren Lebensübergängen, die von Betroffenen als Krisen erlebt und beschrieben werden. Erwachsenwerden, Elternschaft, Wechseljahre, Großelternschaft und der Übergang in den Ruhestand sind weitere Übergänge, die uns auf verschiedenen Ebenen herausfordern oder unsere Identität in Frage stellen. 

Wovon sprechen wir, wenn wir den Begriff „Identität“ im pädagogischen Verständnis verwenden?

Wenn wir „Identität“ im Internet recherchieren, kommen wir auf verschiedenste Perspektiven und Ansätze, die mit dem Begriff etwas verbinden. Deshalb lohnt es sich, zu Beginn eine kurze Einordnung zu wagen. 
Ich selbst gehe von einem für die Pädagogik anwendbaren Identitätsbegriff aus: 
Wikipedia beschreibt „Identität“ wie folgt:
„Identität des Kindes/Jugendlichen ist das Ziel jeglicher Erziehungsbemühungen, wobei man davon ausgeht, dass der Erziehende seine Methodik darauf abstimmen bzw. überprüfen muss, ob sie dem Ziel förderlich ist.“ (Wikipedia 2025)

Das Stufenmodell

Claudia Wallner ist Praxisforscherin und hat in ihrem Artikel zum Thema „Geschlechtsidentität“ den Begriff aus der Perspektive von Erik Homburger und Joan Erikson beleuchtet. Diese beschreiben ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung.
Demnach ist Identität nicht allein im Individuum angelegt und unveränderbar, sondern entsteht und entwickelt sich permanent im Wechselspiel von Individuum und Umwelt, wobei das Individuum eigene Positionen im Verhältnis zur Umwelt entwickelt, verwirft und neu bildet. Identität in diesem Sinne ist weniger ein individueller Kern als vielmehr ein Diskurs zwischen Menschen und Umwelt, Identität damit vom Außen beeinflusst und wandelbar. (Wallner 2022)

 

Das Säulenmodell

Konkreter auf die Thematik geht der deutsche Psychologe Hilarion Petzold schon zu Beginn der neunziger Jahre mit seinem „5-Säulen-Modell“ ein.
Mit den 5 Säulen der Identität können die Entwicklungsaufgaben der Heranwachsenden unterteilt werden. Petzold unterschiedet in:

  • Leiblichkeit, Gesundheit:
    Körper, Aussehen, Alter, Gesundheit, Krankheit;
  • Gesellschaft, Soziales Netz:
    Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Vereine, Arbeitswelt;
  • Materielle Sicherheit:
    Einkommen, Vermögen, Wohnung, Eigentum;
  • Arbeit, Leistung, Freizeit:
    Beruf, Studium, Noten, Hobbys, sportliche Erfolge;
  • Werte, Normen, Ideale:
    Soziales/politisches Engagement, Religion, Weltanschauung.
    (vgl. Petzold 2020 S. 520ff)

Er plädiert dafür, dass wir als Fachkräfte bei allen Säulen wertvolle Beiträge leisten können und sollen. Wenn wir Kinder und Jugendliche begleiten, die Ausschluss aufgrund von ökonomischen Einschränkungen erfahren, empfiehlt er, dass wir uns im nahen Umfeld oder in der Region für die Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzen, um die Säule „Materielle Sicherheit“ zu stärken. Weiters sieht er es auch als zentral an, dass Fachkräfte mit Kindern und Jugendlichen ihre Werte, Normen und Ideale besprechen. Selbst wenn sie uns sehr fern sind und wir sie als Privatperson ablehnen, sollen wir als Fachkraft uns diesen Themen stellen und unserem Gegenüber die Chance auf eine Auseinandersetzung und ein gemeinsames Lernen voneinander ermöglichen.
Das Modell von Petzold findet in der Sozialen Arbeit und in der Jugendberatung auch als Anamnese-Tool Anwendung. Mit dem differenzierten Blick auf jede Säule lässt sich ein Verhalten, eine Ablehnung, eine Blockade besser einordnen. Dies hilft den Fachkräften, ist aber auch für die Kinder und Jugendlichen ein hilfreiches Wissen und fördert deren Selbstverstehen.

Jetzt aber mal ganz konkret:

Was bedeuten die theoretischen Ideen für die Begegnung mit Menschen in einer Identitäts(krise)entwicklung?

Professionelle Beziehung
Menschen haben das Grundbedürfnis nach Verbundensein. Dieses Grundbedürfnis beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Es ist ein Leitmotiv für unser Menschsein.
Wenn wir Begegnungen gestalten, kommen wir diesem Grundbedürfnis nach. Wenn wir mit Menschen in einem guten Kontakt sind, entsteht eine Resonanz. Wir fühlen uns verbunden und können innere Ruhe und „Ganzsein“ durch diese Resonanzerfahrung verspüren.

Gesprächssituationen und gelingende Gespräche gestalten
Wir gestalten täglich und in jeder Situation einer Begegnung Gesprächssituationen. In beruflichen Situationen und in den Handlungsfeldern der formalen/non-formalen Bildung und der Sozialen Arbeit gestalten wir die jeweilige Gesprächssituation bewusst und um unserem Gegenüber ein Einlassen zu ermöglichen.
Dabei ist hilfreich, dass wir uns bewusst sind, was wir mit der Gestaltung beabsichtigen. Dabei sind Begriffe wie Vertrauen, Vertraulichkeit, Sicherheit und Ehrlichkeit nicht nur Worte, sondern die Grundlage für das Gelingen.

Motivierende Gesprächsführung
In der niederschwelligen Sozialen Arbeit hat sich in den letzten Jahren die Motivierende Gesprächsführung als ein hilfreiches Instrument erwiesen. 
William Miller und Stephen Rollnick (2004) haben den Beratungsansatz mit ihrem Grundlagenbuch geprägt und mittlerweile ist dieser Beratungsansatz in der Sozialen Arbeit gut verankert.

Ihre wichtigsten Ergebnisse sind:

  • Mit Wertschätzung, Empathie und mit Hilfe von aktivem Zuhören können wir Menschen in ihren Veränderungswünschen unterstützen.

Ergänzend zur Motivierenden Gesprächsführung ist der ganzheitliche Bildungsansatz der Lebenskompetenzen der WHO (2024). Lebenskompetent ist laut WHO, wer sich selbst kennt und mag, empathisch ist, kritisch und kreativ denkt, kommunizieren und Beziehungen herbeiführen kann, durchdachte Entscheidungen trifft, erfolgreich Probleme löst, Gefühle und Stress bewältigen kann. 

Meredith Little und Steven Foster (2012) haben in den neunziger Jahren Übergangsrituale für Jugendgruppen entwickelt, um mit Hilfe der Natur eine Orientierung für ihren Übergangsprozess zum Erwachsenwerden zu erhalten.
Sie hat sehr wirksame und wertschätzende Begleitungsformen für dieses Ritual ausgewählt und über viele Jahre weiterentwickelt. Ihre Ideen können im Buch „Visionssuche“ nachgelesen werden. 
Ihnen wurde klar, dass der Übergang von Kind zum verantwortungsvollen Mitglied in der Gemeinschaft nicht nur vorindustriellen Gesellschaften wichtig ist. 
Ähnliche Rituale finden wir in abgeschwächter Form in unserer modernen Gesellschaft. Bei großen Weltreligionen werden Lebensübergänge rituell gestaltet. Oft nach der Geburt, mit 6-7 Jahren und mit 13-14 Jahren finden wir viele derartigen Ideen.

Mit Wertschätzung, Empathie und mit Hilfe von aktivem Zuhören können wir Menschen in ihren Veränderungswünschen unterstützen.

Auch die soziale und berufliche Identität wird mit Ritualen begleitet. Schulabschlüsse, Lehrabschlüsse, Sponsionen in den unterschiedlichen Berufsständen werden unterschiedlich intensiv, aber mit allen Abstufungen doch noch in kleinem Maße begleitet. 
Identität ist ein ständiger Prozess, der bei uns allen in Veränderung ist. Wenn wir unsere Bausteine oder Säulen ausreichend etabliert haben, fallen sie uns nicht mehr auf. Wenn ein Baustein an Substanz verliert, bemerken wir, dass uns etwas fehlt.

Bei Kindern und Jugendlichen ist dieser Prozess fragiler und im ständigen Wandel. Sie brauchen Erwachsene, die sich ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst sind.

Im Seminar am 28.02.2025 gehen wir der Frage nach, wie eine kompetente Begleitung in dieser Identitätssuche aussehen könnte.

  • Was ist eine kompetente Begleitung im Übergang von der Kindheit zur Jugend?
  • Was ist hilfreich?
  • Was können wir Erwachsene anbieten?

Workshop mit Marcel Franke

Identität: 

Marcel Franke wird im Rahmen der  Reihe "Dialog statt Kollision - Jugendliche Anliegen ernst nehmen" am 28. Feber im Haus der Begegung in Innsbruck einen Workshop halten und noch mehr auf die Frage eingehen, wie eine kompetente Begleitung bei der Identitässuche von Kindern und Jugendlichen sein kann.

Die Inhalte des Workshops sollen ein Werkzeugkoffer für Lehrkräfte und Jugendarbeiter*innen sein. 

Mehr Informationen zum Workshop und zur ganzen Workshop-Reihe "Dialog statt Kollision - Jugendliche Anliegen ernst nehmen" gibt es hier

Literatur

Marcel Franke
Marcel Franke

Marcel Franke, Sozial- und Sexualpädagoge, Traumapädagoge und traumazentrierter Fachberater DeGPT, Zertifizierter und Diplomierter Erwachsenenbildner WBA. Coach, Supervisor und Botschafter für mehr Humor in Bildung & Beratung.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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