Lehrkräftemangel - Ergebnisse, Reflexion, Perspektiven und ein Plädoyer 2/3

2. Der Lehrberuf und die Identität von Lehrerinnen und Lehrern

Um zu verdeutlichen, wie facettenreich und auf eine vielfältige Weise ‚kompetent‘ eine Lehrperson sein sollte und um eine Wertschätzung für ihre bedeutungsvolle Rolle zu erwecken, möchte ich mit einem Überblick des Profils einer ‚guten‘ Lehrerin bzw. eines ‚guten‘ Lehrers einsteigen.

2.1 Profil einer professionellen Lehrperson

Die Rolle, und damit (angestrebte) Identität, einer Lehrperson vereint nicht nur eine Vielzahl an Eigenschaften, sie entwickelt diese im Laufe ihrer Karriere auch stetig weiter (Darling-Hammond et al., 2009) – so die Hoffnung. Eine ‚gute‘ Lehrperson

  • pflegt eine positive, unterstützende Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern, ist sensibel für deren individuelle Bedürfnisse, (ent)deckt deren Potenziale auf, hilft diese zu entfalten, meistert gemeinsam mit ihnen diverse Herausforderungen und schafft Lernumgebungen, in denen sich bestenfalls alle respektiert und sicher fühlen (Roorda et al., 2011; Wentzel, 2002).
  • verfügt daher über weitaus mehr als fundiertes Fachwissen: Sie versteht, wie sich dieses Wissen zusammensetzt, wie Lernenden dieses Wissen zukünftig nützlich ist und wie es effektiv vermittelt resp. gelernt werden kann (Kunter et al., 2013; Neuweg, 2014; Shulman, 1986, 1987).
  • versteht somit auch Zusammenhänge zwischen verschiedenen Fächern und kann den Lernenden zeigen, wie diese miteinander verknüpft sind, d. h., sie kann den Unterricht so gestalten, dass ihre Lernenden die Bedeutung des Gelernten in einem breiteren Kontext erkennen.
  • kommuniziert komplexe Konzepte effektiv und verständlich, hört ihren Schülerinnen und Schülern aktiv zu und reagiert angemessen auf ihre Fragen und Anliegen (Hattie, 2003; Kunter et al., 2013; Stronge, 2018).
  • kann sich und ihren Unterricht flexibel anpassen, um den unterschiedlichen Lernstilen, Bedürfnissen und Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler vor dem Hintergrund einer sich stetig verändernden Welt gerecht zu werden (Baumann, 2023; Helmke, 2015; Tomlinson, 2001). 
  • ist somit stets darum bemüht, sich selbst sowie ihre Unterrichtspraxis zu reflektieren und zu verbessern. I. e., sie ist offen für Feedback und nutzt professionelle Entwicklungsmöglichkeiten, um ihre Fähigkeiten und Kenntnisse zu erweitern (Day et al., 2006; Körkkö et al., 2016; Moon, 2004).
  • motiviert ihre Lernenden und weckt ihr Interesse am Lernen, indem sie eine positive Lernatmosphäre schafft, die dazu ermutigt, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen und ihr Bestes zu geben (Deci & Ryan, 2000; Gottfried, 1990).
  • zeigt stets Empathie für ihre Lernenden, ist sensibel für emotionale Bedürfnisse und bietet Unterstützung, wenn nötig (Brackett et al., 2012; Jennings & Greenberg, 2009).

Grundlegend, sowie in alle Eigenschaften einfließend, ist der Aufbau einer Beziehungskultur zwischen der Lehrperson und ihren Lernenden, die gleichermaßen von Nähe und Distanz gekennzeichnet ist (Day et al., 2006, S. 606). Die berufliche Identität von Lehrpersonen ist u. a. deshalb eng mit ihren personalen Eigenschaften (ihrem Selbst) verbunden. Neben einer fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen benötigt sie also eine solide pädagogische Ausbildung, eine gefestigte Persönlichkeit und Selbstkompetenz sowie die Fähigkeit, Lehrlernmethoden und Lernstrategien im Beziehungsgefüge einer heterogenen Lerngruppe zu orchestrieren, sodass Bildungsprozesse ermöglicht werden (Darling-Hammond & Bransford, 2005; Miller, 2017; Shulman, 1986, 1987). 

Zwei junge Menschen sitzen vor einem Buch und lernen gemeinsam

2.2 Lehrer*in werden – eine universitäre Ausbildung lohnt sich

Wenngleich häufig beklagt wird, dass die Ausbildung von Lehrpersonen an Universitäten (resp. Hochschulen) nicht immer angemessen für die Entwicklung der geschilderten Kompetenzen einer Lehrperson und damit nicht nützlich für deren Lehrpraxis sei, zeigen Studien (u. a. Darling-Hammond et al., 2002; Wilson & Floden, 2003; Wilson et al., 2002; Zeichner & Tabachnik, 1981) einen signifikanten Einfluss gut strukturierter und qualitativ hochwertiger universitärer Ausbildung auf pädagogisches Fachwissen, Selbstreflexion und Fähigkeiten im Umgang mit Schülerinnen und Schülern – verglichen mit alternativen Wegen der Ausbildung. Zeichner und Tabachnik (1981) konnten zudem zeigen, dass die Auswirkungen der Lehramtsausbildung an Universitäten nicht ‚einfach‘ durch Erfahrungen in der Schule ‚weggewaschen‘ werden. Eine fundierte Ausbildung an Universitäten und Hochschulen kann einen bedeutenden Einfluss auf das Lehrverhalten und die pädagogischen Fähigkeiten von Lehrpersonen haben und sollte daher – trotz Lehrkräftemangel und damit verbundenen Quereinstiegsmodellen – weiter unser Bestreben sein. Die Struktur und die Qualität dieser Ausbildung darf und soll jedoch stets (kritisch) reflektiert werden. Dazu gehört auch, dass wir die Adressaten mit ihren Motiven, ihren Bedürfnissen und Sorgen in den Blick nehmen und dass wir sie ernst nehmen. Gut strukturierte und qualitativ hochwertige Ausbildung funktioniert nur, wenn die Auszubildenden motiviert sind (Deci & Ryan, 2000) und wenn sie sich wohlfühlen und ‚durchhalten‘.

2.3 Motiv und Motivation im Lehrberuf

Motivation spielt eine, wenn nicht die, entscheidende Rolle jedweder Bildungsprozesse – aufseiten der Schülerinnen und Schüler sowie seitens der Lehrer und Lehrerinnen (Deci & Ryan, 2000; Gottfried, 1990; Ramseier, 2004). Motivation (lat. movere: in Bewegung setzen) „ist die aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand hin […]“ (Rheinberg, 2008, S. 15). Motivation erwächst aus Motiven, die „bestimmen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, welche Informationen wir im Gedächtnis suchen, welche Denkprobleme wir lösen wollen, welche Verhaltensweisen wir ausführen, usw. […]“ (Herkner, 1986, S. 191). Diese Motive können intrinsisch (von sich selbst aus) oder extrinsisch (durch externe Anreize bedingt) sein.

Intrinsische Motive von Lehrpersonen beziehen sich auf weitere Aspekte der beruflichen Tätigkeit wie etwa biografisch bedingte oder idealistische Absichten (bspw. das Motiv gesellschaftlicher Relevanz von Bildung). Extrinsische Motive erwachsen aus dem Gewinn, den man sich aus einer (beruflichen) Tätigkeit erhofft (Keller-Schneider et al., 2018, S. 218–220). Mit Motivation ist also immer auch ein Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit sowie nach Selbstbestimmung verbunden – Menschen streben nach Autonomie, (Weiter-)Entwicklung und sozialen Verbindungen (Deci & Ryan, 2000). Wenn einer Lehrperson diese Möglichkeiten gegeben sind und wenn sie selbstbestimmt und autonom in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung ist, sich wohl in ihrem sozialen Gefüge wohlfühlt, dann ist sie – so die Annahme – motiviert, und das beeinflusst ihr Engagement, ihre Arbeitszufriedenheit und ihre Leistungsfähigkeit, was wiederum einen großen Einfluss auf die Lernprozesse und -erfolge ihrer Lernenden hat (Keller-Schneider et al., 2018).

Damit (angehende) Lehrpersonen ihre Motivation er- bzw. behalten, ist es also wichtig, dass ihnen dies ermöglicht wird und sie zugleich dabei unterstützt werden (Day & Gu, 2007) – die Erfüllung grundlegender psychologischer Bedürfnisse ist für die Förderung von Motivation und Wohlbefinden zentral. Daher gilt es nicht nur, Motive resp. Motivation, sondern auch die(se) Bedürfnisse von (angehenden) Lehrpersonen in den Blick zu nehmen, denn sie spielen eine Schlüsselrolle, um ihr Potenzial vollständig zu entfalten und zu erhalten (Deci & Ryan, 2000). Im Folgenden möchte ich dieses Desiderat aufgreifen und erste Ergebnisse darstellen, die zeigen, was aktuell1) (angehende)2) österreichische Lehrerinnen und Lehrer dazu motiviert (hat), den Lehrberuf und die damit verbundene universitäre Ausbildung (an der Hochschule) zu ergreifen. Weiter möchte ich Ergebnisse vorstellen, die einen Einblick in die Bedürfnisse und Sorgen dieser Studierenden mit Blick auf ihr Studium und ihre berufliche Zukunft gewähren. 
 


1) Laut medialen Berichterstattungen (OÖN, 23. Januar, 2023) verfügt jede zehnte Lehrkraft im österreichischen Pflichtschulsystem über kein abgeschlossenes Lehramtsstudium (Huber et al., 2023, S. 38).
2) Einige der Studierenden sind bereits parallel zum Studium als Lehrer*in tätig.

Simone Baumann
Simone Baumann Dr.

Dr. Simone Baumann ist in der empirischen Forschung am Institut für fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule Tirol tätig.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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