Lehrkräftemangel - Ergebnisse, Reflexion, Perspektiven und ein Plädoyer 1/3

Lehrkräftemangel in Österreich, Deutschland und der Schweiz

„‚Ich sehe meine Zukunft definitiv nicht in der Schule […]‘, sagt die 24-jährige Marlene. Sie arbeitet derzeit noch in einer Mittelschule in Niederösterreich. Lange wird sie dort nicht mehr bleiben […]“ (Berger, 2022). 

Der seit Jahren Einzug haltende und weiter zunehmende Lehrkräftemangel1) stellt das Bildungssystem in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor immer weiter wachsende Herausforderungen (z. B. Huber et al., 2023) – u. a. mangelnde Qualitätssicherung hinsichtlich der Lernentwicklung von Schülerinnen und Schülern bedingt durch Unterrichtsaufall und zunehmend (über)belastete Lehrerinnen und Lehrer (Huber & Lusnig, 2022). Die stetig wachsende Belastung in der Lehrpraxis – die weit über ‚bloßes‘ Unterrichten hinausgeht – führt viele Lehrkräfte in die Teilzeitbeschäftigung und nicht selten zur Berufsaufgabe. Das verschärft den Lehrpersonenmangel und seine Ursachen weiter – ein Teufelskreis. Laut aktuellen Prognosen aus Deutschland (z. B. Klemm, 2022) decken sich die Zahlen von Lehramtsstudierenden nicht mit der Entwicklung der Anzahl von Schulabsolventen und -absolventinnen und so wird es in Deutschland in der Zukunft etwa 100.000 weniger neu ausgebildete Lehrkräfte geben, als aktuell angenommen (KMK, 2022). Der Bildungsbericht für Österreich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF, 2021) prognostiziert ebenfalls einen stetig wachsenden Mangel an Lehrerinnen und Lehrern in den nächsten zehn Jahren: „Angesichts der prognostizierten Entwicklung steigender Schülerzahlen bis 2030 (Primarstufe) bzw. 2040 (Sekundarstufe; […]) droht langfristig ein Lehrermangel in Österreich, wenn es nicht gelingt, vermehrt junge Personen für das Lehramt zu rekrutieren.“ (ebd., S. 217). In der Schweiz sehen die Prognosen ähnlich aus (u. a. Sandmeier & Herzog, 2022; SKBF-CSRE, 2018).2)

1.1 Ursachen 

Huber und Lusnig (2022, S. 52–55) sowie Sandmeier und Herzog (2022) fassen Ursachen für den Lehrkräftemangel zusammen: 

  • eine anhaltend hohe Pensionierungswelle (BMBWF, 2021); 
  • erhöhte Teilzeitbeschäftigung, u. a. bedingt durch erhöhte Belastungen;
  • zunehmende Abbrecherquote in den ersten Jahren der Lehrpraxis (Sandmeier & Herzog, 2022), was „auf einen Realitätsschock, auf die oft schwierigen Arbeitsbedingungen […] und fehlende Begleitstrukturen für Berufseinsteigende zurückgeführt [wird].“ (Huber & Lusnig, 2022, S. 54). Forschungsergebnisse aus der Schweiz (z. B. BFS, 2019) untermauern diese Vermutung: Studierendenzahlen pädagogischer Hochschulen in der Schweiz steigen tendenziell und die Absolventinnen und Absolventen steigen nach spätestens fünf Jahren zu 90 % in den Lehrberuf ein. Die Problematik scheint also mitunter weniger in der Rekrutierung, sondern mehr in der (Er-)Haltung des Personals begründet zu sein.
  • mangelnde Wertschätzung, i. e., das Erleben und Erhalten von Anerkennung, Aufmerksamkeit und konstruktivem Feedback und soziale Unterstützung fehlen. Weiter scheint in dem Zusammenhang ein Mangel an Sinnhaftigkeit auszuübender Tätigkeiten sowie eine Diskrepanz zwischen Aufgaben und Fähigkeiten zu bestehen (z. B. Herzog et al., 2023).
  • die mentale Erschöpfung von Lehrpersonen, die u. a. auch im Zusammenhang mit obigen Ursachen steht.
  • ein Lohnniveau, das (die skizzierten) Schwachpunkte des Lehrberufs nicht abmildern kann.

Erschwerend hinzu kommt, dass zahlreiche Lehramtsstudierende ihr Studium (frühzeitig) abbrechen (Hartl et al., 2022; Süßenbach et al., 2023). Süßenbach et al. (2023) veranschaulichen, dass in best case Szenarien nur etwa 75 %, in worst case Szenarien sogar nur weniger als 10 % tatsächlich ihre Ausbildung abschließen. Während die Schülerinnen- und Schülerzahlen steigen, sehen sich diese einer abnehmenden Lehrerschaft gegenüber (u. a. Huber et al., 2023; BFS, 2022). 

Ein Mann sitzt am PC und reibt sich müde die Augen.

1.2 Lösungsansätze

Aus der Identifikation der Ursachen erwachsen – so die Hoffnung – kurz- und langfristige Lösungsansätze, dem Lehrermangel zu begegnen (z. B. Sandmeier & Herzog, 2022, S. 2). Kurzfristig werden die Reaktivierung pensionierter Lehrkräfte (im Einverständnis mit den Lehrkräften), die Aufstockung von Teilzeitbeschäftigungen, die Erhöhung von Klassengrößen sowie der Einsatz von Quereinsteigerinnen und -einsteigern erwogen (Huber & Lusnig, 2022, S.°55–56).

Langfristige Lösungsansätze (u. a. Huber & Lusnig, 2022, 2023) zielen vor allem auf die sensible Förderung von Lehrerinnen- und Lehrernachwuchs, bspw. schon während deren eigener Schullaufbahn als Lernende.3) Für mögliche Maßnahmen tertiärer Bildungsorgane, z. B. an der Hochschule, schlagen Huber und Lusnig (2023) in ihrem umfangreichen Maßnahmenkatalog u. a. vor, Zulassungsbedingungen zu ändern – Abwendung von einer eindimensionalen Orientierung am Numerus clausus, Hinwendung zu mehrperspektivischen Eingangstests, um einer hohen Abbruchquote entgegenzutreten – und ein verkürztes und/oder duales Lehramtsstudium sowie die Möglichkeit, nur ein Fach zu studieren, zu erwägen.

Weiter solle in manchen Teilen des Studiums der Praxisanteil ausgebaut werden, wobei hinsichtlich Relation von Lehrpraxis und Studium, vor dem Hintergrund von Forschungsergebnissen, die auf eine Überforderung der Studierenden hindeuten, Vorsicht geboten ist. Auch sei die Gefahr potenzieller Dequalifizierungsprozesse, die durch verfrühten Berufseintritt (teils sogar vor Bachelorabschluss) und/oder Quereinstiegsmodelle bedingt sein können, (kritisch) zu reflektieren.4)
Um nicht nur Lehrkräftemangel, sondern auch Qualitätsverlust von Bildung zu verhindern, muss aufseiten tertiärer Bildungsorgane einerseits die Qualität der Lehrer(aus)bildung gesichert werden (Kunter et al., 2013), andererseits müssen Möglichkeiten geschaffen werden, „Quereinstieg als berufsbegleitende vollwertige Ausbildung [anzubieten]“ (Huber & Lusnig, 2023, S.°75). Studierenden sollen zudem mehr (explizite) Reflexions- und Beratungsmöglichkeiten angeboten werden, d. h., sie sollen vor und während des Studiums angemessen und fortwährend beraten und beratend begleitet sowie zu (kritischer) Reflexion ihrer Eignung, Absicht und Motivation angeleitet werden (z. B. Weyand, 2016).

Darüber hinaus soll der Nachwuchs potenzieller Führungskräfte frühzeitig in den Blick, d. h. gefördert und Laufbahn- sowie potenzielle Karrieremöglichkeiten von (angehenden) Lehrpersonen entdeckt und reflektiert werden (z. B. Weyand, 2017). Huber und Lusnig plädieren im Allgemeinen dafür, diese uns alle betreffenden Umstände und mögliche Lösungsansätze viel mehr und gemeinsam zu diskutieren. 

Ein Stapel aufgeschlagener Bücher mit eingelegten Stiften und Zetteln.

1.3 Fragen

Am Plädoyer von Huber und Lusnig möchte ich ansetzen und dabei die (angehenden) Lehrerinnen und Lehrer in den Blick nehmen. Eine erste Frage, die sich aus obigen Überlegungen und den lediglich konzis konturierten Ergebnissen ergibt, ist, was Menschen motiviert resp. motivieren kann, Lehrer*in zu werden.
Eine weitere Frage ergibt sich aus Perspektive tertiärer Bildungsorgane dahingehend, inwiefern die Hochschule dazu beitragen kann, einerseits die Qualität der Lehrer(aus)bildung sicherzustellen und wie sie andererseits ihre Adressaten sensibel in den Blick nehmen und auf ihre Zukunft in der Lehrpraxis angemessen vorbereiten sowie Studien- und Berufsabbrüchen vorbeugen kann.
Hierzu greife ich die Forderung nach mehr (kritischer) Reflexion (in der Lehrerausbildungsphase) auf und reflektiere zunächst – ausgehend von evidenzbasierten Merkmalen einer professionellen Lehreridentität – Berufswahlmotive, Bedürfnisse und Sorgen von Studierenden und stelle dann erste Ergebnisse einer Studierendenbefragung der Pädagogischen Hochschule Tirol (PHT) vor.
Die Studentinnen und Studenten des Primarstufen-, Sekundarstufen- und Berufsschullehramts der PHT wurden gefragt, was sie dazu bewegt(e), Lehrerinnen und Lehrer werden zu wollen, was sie sich von einer Hochschule für ihre persönliche und berufliche Entwicklung wünschen und mit welchen Sorgen sie konfrontiert sind. Ausgehend von diesen Ergebnissen wird diskutiert, wie langfristige Lösungsansätze seitens tertiärer Bildungsorgane gestaltet und zukünftigen Studien- und Berufsabbrüchen möglicherweise präventiv begegnet werden kann.


1) Hinweise hierzu finden sich in wissenschaftlicher Literatur sowie seit vielen Jahren in der Tagespresse der Länder Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auf eine Aufzählung wird verzichtet.
2) Eine übersichtliche Zusammenstellung zu Statistiken im Hinblick auf den Lehrkräftemangel in Deutschland, Österreich und der Schweiz findet sich bspw. bei Huber und Lusnig (2022) und den dort angegeben Referenzen.
3) Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf Lösungsansätze, welche die (angehenden) Lehrpersonen betreffen und greift damit verbundene mögliche Maßnahmen seitens tertiärer Bildungsorgane auf. Weitere Maßnahmen sind u. a. bei Huber und Lusnig (2023) einzusehen.
 4) Laut medialen Berichterstattungen (OÖN, 23. Januar, 2023) verfügt jede zehnte Lehrkraft im österreichischen Pflichtschulsystem über kein abgeschlossenes Lehramtsstudium (Huber et al., 2023, S. 38).

Simone Baumann
Simone Baumann Dr.

Dr. Simone Baumann ist in der empirischen Forschung am Institut für fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule Tirol tätig.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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