Die Muttersprache als Schlüssel

Die Muttersprache ist Schlüssel zu tiefen menschlichen Verbindungen und öffnet die Türen zu unserer Identität. Dieser Beitrag beleuchtet warum es so wichtig ist, die Muttersprache zu erhalten und zu pflegen. 

Einer der Gründe für den geringeren schulischen Erfolg von Kindern mit Migrationshintergrund aus der Türkei sind sprachliche Schwierigkeiten. Da die Eltern, Einwanderer der ersten Generation, beruflich oft Tätigkeiten nachgehen, die keine oder nur sehr geringe Kenntnisse der Landessprache Deutsch erfordern, beherrschen sie auch nach langjährigem Aufenthalt in Österreich selten eine Landessprache perfekt. Die zweite Generation lernt folglich nicht selten erst mit dem Kindergartenbesuch oder dem Schuleintritt eine Landessprache und muss dadurch zum inhaltlichen Lernen zusätzlich eine sprachliche Leistung erbringen. Bei vielen Kindern kommt es vor, dass in dieser Situation weder die der Eltern, noch eine Landessprache in Wort und Schrift korrekt erlernt wird.

Folgende Argumente bekommt man sehr oft  zu hören:

  • Ich will nicht, dass mein Kind Türkisch (Kroatisch, Bosnisch,.. etc.) lernt. Es so schnell wie möglich Deutsch lernen. Es schadet nur, wenn es den muttersprachlichen Unterricht auch noch besucht."
  • Man muss den ausländischen Kindern verbieten, sich untereinander in ihrer Sprache zu unterhalten. Das hindert sie am Erlernen der deutschen Sprache.

Die zentrale Rolle der Muttersprache für die sprachliche Entwicklung eines Kindes und für den Schulerfolg ist spätestens seit den Sechzigerjahren pädagogisches Allgemeingut. Damals wurde festgestellt, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten (auch Kinder, die einen Dialekt als Muttersprache sprechen) in den an Mittelschichtnormen und an der Hochsprache orientierten Schulen benachteiligt sind. Ausnahme bilden die seltenen Fällen von „echtem“, frühen Bilinguismus, bei dem ein Kind zwei Sprachen simultan erwirbt.

Bei Kindern mit Migrationshintergrund passiert häufig, dass die Entwicklung der Muttersprache mit Schuleintritt mehr oder weniger abrupt abgeschnitten wird. Die Kinder lernen in der Zweitsprache Deutsch oder in einer anderen Fremdsprache lesen und schreiben, werden also auf Deutsch alphabetisiert. Die Folge davon ist, dass sich weder die eine noch die andere Sprache voll entwickeln kann und daraus die sogenannte „Halbsprachigkeit“ resultiert.

Ein Vater, ein Kind und eine Mutter gehen Hand in Hand. Man sieht sie von hinten. Der Vater träge eine knielange Jeans und ein blaues T-Shirt, das Kind ein rosa T-Shirt und die Mutter eine rote Jeans und ein weißes T-Shirt.

Das Defizit zeigt sich erst später

Die unzulängliche Kenntnis der Muttersprache und der Zweitsprache Deutsch ist oft oberflächlich nicht feststellbar. Die betreffenden Kinder fallen in der Alltagskommunikation nicht auf. Das Defizit zeigt sich erst viel später, wenn in der Schule die „kognitiv-akademischen“ sprachlichen Fähigkeiten in den Vordergrund rücken (z. B. wenn Kinder abstrakte Begriffe verstehen und gebrauchen sollen). Befunde aus der Zweisprachigkeitsforschung zeigen also, dass die sprachlichen Fertigkeiten, die jemand in einer Zweitsprache (Deutsch) erreichen kann, zu einem wesentlichen Teil vom Niveau abhängig ist, das jemand in seiner Muttersprache erreicht hat.

Vieles spricht also für die möglichst breite Berücksichtigung der Muttersprachen von Minderheitenkindern.

Dass das Kind die Muttersprache ohnehin beherrsche und diese nicht zu erlernen brauche, trifft nicht zu. Ein familiärer Gebrauch der Sprache reicht nicht aus, um eine Sprache weiter zu entwickeln. Ein Vergleich mit dem Deutschunterricht zeigt allerdings, dass hier von falschen Prämissen ausgegangen wird. Würden die sprachliche Bewältigung von Alltagssituationen und eine ausschließlich mündliche Kompetenz als ausreichend erachtet werden, gäbe es nämlich keinen schulischen Deutschunterricht.

Muttersprachlicher Unterricht behindere, störe das Erlernen der Zweitsprache Deutsch, ist auch ein Trugschluss. Gerade deswegen entwickelt sich die oben erwähnte „Halbsprachigkeit“, die sich später in allen Bereichen schulischer Leistungen negativ auswirken kann.

Schließlich werden wesentliche Bereiche der Sprache, vor allem der schriftliche Gebrauch, aber auch die Erweiterung des Wortschatzes, der Aufbau eines Fachvokabulars, das differenzierte Argumentieren, das Verstehen und Interpretieren von Texten und vieles andere mehr, erst in der Schule erschlossen. Lesen und Schreiben erlernt man eben nicht in der Familie oder im Kontakt mit Gleichaltrigen.

Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass in Österreich alle Schüler*innen mit anderen Erstsprachen als Deutsch sowie jene, die im Familienverband zweisprachig aufwachsen, ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer Aufenthaltsdauer in Österreich und ihrer Deutschkompetenz berechtigt sind, am muttersprachlichen Unterricht teil zu nehmen.

 

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Azade Tuncer BEd

Azade Tuncer ist Beratungslehrerin im FIDS, dem Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik der Bildungsdirektion Tirol.

Dieser Artikel erscheint unter Creative Commons, BY-NC-SA.

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